Schlangenfluch 2: Ravens Gift (German Edition)
aufgegeben.
„Tom, ich denke, wir müssen miteinander reden.“
„Über den Spiegel?“ Es gab kein sinnloseres Möbelstück.
„Über dich.“ Sie drückte ihm die Tüte in den Arm und ging vor zur Küche. Wollte sie ihm jetzt sagen, dass er sich eine andere für seine Botengänge suchen sollte?
„So geht das mit dir nicht weiter. Du musst dir helfen lassen, und ich weiß auch von wem.“
„Von deinem Botox-Spezialisten?“ Wie seriös konnte ein Arzt sein, der gackernden Studentinnen Kanülen ins Gesicht jagte?
„Nicht von ihm, aber von seinem Chef. Hier.“ Sie kramte einen Prospekt aus ihrem Rucksack. Vorher-Nachher-Bilder der besonderen Art. Opfer von Unfällen und Krankheiten blickten ihm auf der einen Seite des Hochglanzblattes entgegen. Er hätte sich in diese Riege der Aussätzigen nahtlos einreihen können. Nicht ein Foto, das einem Menschen glich. Nur Monster. Auf der gegenüberliegenden Seite dann das Wunder. Glattgebügelt, abgeschliffen oder poliert. Wie auch immer. Jedenfalls waren es Gesichter, bei denen niemand zusammenzucken musste. Unten rechts war die Adresse einer Klinik samt Foto. Das Gebäude stand in einem Park und sah nach Privatklinik aus.
Miyu zuckte die Schultern. „Kannst du deine Eltern nicht um Geld bitten?“
Seine Eltern hatten keinen Schimmer. Weder von der speziellen Beziehung zu seinem Onkel noch von dem Angriff. Was sein Vater wohl dazu sagen würde, dass eine Missgeburt seinem Bruder den Kopf abgerissen hatte?
„Ein Typ, der solche Härtefälle gewohnt ist, verzweifelt auch nicht bei deiner Visage.“
Wahrscheinlich sollte das von Miyu tröstend gemeint sein. Warum ging sie nicht einfach?
„Das ist ein Profi. Der bekommt dich hin.“ Zögerndes auf die Schulter klopfen. Dann schnelles Händewegziehen. Ein Freak hatte ihm die Haut vom Gesicht gezogen. Er hatte keine Lepra.
„Da unten steht etwas von seiner Praxis. Ruf wenigstens an. Vielleicht kannst du dir die Klinik sparen. Ambulant ist es bestimmt billiger.“
„Vielleicht kann ich mir diesen ganzen Mist sparen.“ Ein sauberer Riss und beide Hälften segelten zu Boden. Ein Arzttermin, ein Weg durch die Stadt, der Gang in die Praxis, an fremden Menschen vorbei. Tausend Gelegenheiten, angestarrt zu werden. „Keinen Schritt raus aus der Wohnung.“ Bis zum Ende seines Lebens.
Miyu starrte auf die Papierfetzen. „Und wenn du ihm sagst, wie es um dich steht? Dann gibt er dir bestimmt einen Termin nach Sonnenuntergang.“
„Klar. Und gratis ein Shuttle mit blickdichten Scheiben direkt ins Behandlungszimmer.“
„Ich will dir nur helfen.“
Das war nett. Tom mühte sich um ein Lächeln, das sein Gesicht nicht noch fratzenhafter aussehen ließ. Miyu schauderte trotzdem. Immerhin war sie hier und opferte ihre Zeit für ihn. Aber was er brauchte, war ein Wunder und Wunder waren teuer.
Das Bild eines Mädchens lächelte ihn von unten an. Ihr Gesicht hatte er in der Mitte zerrissen. Sie war nicht schön, aber auch nicht mehr entstellt. Auf dem anderen Bild hatte sie grauenhaft ausgesehen.
„Es ist einen Versuch wert, Tom. Ruf ihn einfach an.“ Miyu bückte sich, hob die Hälfte mit der Adresse auf. Dr. Jeremy Baxter. Facharzt für plastische und ästhetische Chirurgie.
„Nur ein Anruf, Tom. Wovor hast du Angst? Schlimmer kann es nicht werden, und ich habe keine Lust, für die Ewigkeit dein Kindermädchen zu sein. Was dir dieser Köter angetan hat, ist schrecklich, aber du darfst dich deswegen nicht aufgeben.“
In den Highlands hatte ihn ein wilder Hund angefallen. Diese Geschichte hatte er Miyu erzählt, diese Geschichte würde er diesem Arzt erzählen. Sie war gut, weil sie einfach war und viel leichter zu glauben als die Wahrheit.
Das Foto zeigte einen älteren Mann mit weichen Gesichtszügen und gutmütigem Blick. Seine schütteren, sandfarbenen Haare waren über die beginnende Glatze gekämmt. Ein guter Onkel Typ. Der verging sicher jedes Mal vor Mitleid, wenn sich ein neuer Patient bei ihm vorstellte.
Fünfhundert Pfund. Mehr besaß Tom nicht. Ob Baxter sie als Anzahlung akzeptieren würde? Ein Kerl wie er ließ bestimmt mit sich reden.
***
Etwas kitzelte auf seinem Arm. Eine Spinne. Raven wischte sie von sich. Sein Rücken war bretthart. Er war tatsächlich hier draußen eingeschlafen. Von Samuel war nur die Jeans übrig, sie lag neben ihm. Vom Tau ganz feucht. Raven schloss die Augen, aber die Bilder der vergangenen Nacht sah er trotzdem. Wie hatte er es nur so weit kommen lassen
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