Schlangenhaus - Thriller
Sie.«
Sie antwortete nicht, und ich trat näher, bis ich direkt vor ihrem Sessel stand.
»Ruby, es sind Menschen in Gefahr. John Allington, Violet Buckler, Ernest Amblin – sie sind alle tot. Ich will Ihnen keine Angst machen, aber irgendjemand tut alten Menschen etwas an, die früher den Gottesdienst in St. Birinus besucht haben. Sie müssen mir helfen, um Ihrer selbst willen.«
Genau wie beim letzten Mal wollte Ruby mir nicht in die Augen sehen. Sie zitterte, rasche, verängstigte Blicke huschten unter dem hervor, was von ihren Wimpern noch übrig war. Ich hockte mich hin, so dass ich direkt in ihrem Blickfeld war, zwang sie, mich anzusehen.
»Sie finden mich abstoßend, nicht wahr? Nun, daran lässt sich nichts ändern. Im Augenblick haben wir wichtigere Dinge zu besprechen, als wie ich aussehe.«
Mehrere Male sah ich, wie Rubys Blick zu dem Notrufknopf wanderte, doch sie unternahm keinen Versuch, ihn zu erreichen.
»Reden wir doch mal über Schlangenbisse, in Ordnung?«,
sagte ich. »Wissen Sie, was mit menschlichem Gewebe passiert, wenn man Schlangengift hineinspritzt? Wissen Sie das? Denn lassen Sie es sich gesagt sein, Ruby, meine Narbe hier sieht im Vergleich dazu aus wie ein Kratzer.«
Ruby drückte sich rückwärts in den Sessel, wich vor mir zurück, doch ich konnte es mir nicht leisten, Mitleid mit ihr zu haben.
»Als Erstes schwillt es an«, sagte ich. »Haben Sie schon mal eine Hand gesehen, die geschwollen ist wie ein Luftballon, so sehr, dass die Haut, sogar das Fleisch darunter, anfängt, aufzuplatzen und zu reißen? Und verfärben tut es sich auch – rot, lila, schließlich schwarz. Ziemlich häufig stirbt das Gewebe ab, selbst wenn man das Gegengift verabreicht und der Patient überlebt. Das betroffene Glied muss amputiert werden. Und was glauben Sie, was passiert, wenn jemand im Gesicht gebissen worden ist? Können Sie sich vorstellen, wie es sich anfühlt, wenn einem das Gesicht anschwillt wie ein schwarzer Luftballon? Ein Gesicht kann man nicht amputieren, Ruby, das können Sie mir glauben.«
Ich gab mir alle Mühe, mit gedämpfter Stimme zu sprechen; ich wollte nicht, dass irgendjemand vom Personal, der zufällig vorbeikam, mich hörte und hereinkam, um Ruby zu retten. Nicht bevor ich mit ihr fertig war.
»Also, irgendjemand in Ihrem Dorf hält sich sehr giftige Schlangen und benutzt sie, um anderen Menschen etwas anzutun. Ein einziger Biss von diesen Schlangen enthält genug Gift, um fünfzig Menschen zu töten. Fünfzig! Ein Kind hätte keine Chance. Ich weiß, dass Sie mir etwas darüber erzählen können, was hier los ist. Sie können mir erzählen, was 1958 passiert ist. Und ich gehe nicht weg, bevor Sie das tun.«
Wieder schielte sie zu dem Notrufknopf hinüber.
»Bitte, Ruby.«
Sie sah mich an. Ich glaube, es war das erste Mal, dass unsere Blicke sich begegneten. Dann beugte sie sich vor. Ich hörte ihre Gelenke knirschen, als sie sich bückte, sah die
nackte, rosige Kopfhaut dort, wo sie zwischen den spärlichen grauen Strähnen hindurchschimmerte. Und ich sah zu, wie sie ihr Nachthemd vorn in die Höhe zerrte. Ihre Beine waren dünn; die pergamentene Haut sah aus, als könne sie jeden Moment abblättern, geplatzte Äderchen überzogen wie ein Spinnennetz ihre Waden. An den Knien hatte sie blaue Flecken.
Unsicher geworden wich ich wohl sogar um ein Winziges zurück, doch das Nachthemd setzte seine langsame, unaufhaltsame Reise über die verschrumpelten Überreste ihrer Gliedmaßen fort.
Als die Mitte ihrer Oberschenkel entblößt war, hielt sie inne. Dann blickte sie zu mir auf, und mir war, als könne ich einen eigenartigen Triumph in ihren Augen lesen. Ihr rechter Oberschenkel war normal – für eine Frau ihres Alters. Der linke hatte kaum Ähnlichkeit mit einem menschlichen Bein.
Der Umriss des Oberschenkelknochens ragte durch das, was von der Haut noch übrig war. Es sah aus, als habe jemand ihr Fleisch gepackt und mehrere riesige Handvoll weggerissen. Die verbliebene Haut war über die Wunde gezogen und grob vernäht worden, wie der Flickversuch eines Kindes. Es war eine alte Verletzung, doch sie leuchtete stellenweise tiefrot, sogar violett. Hundertmal schlimmer als meine Narbe. Zum Glück für Ruby befand sie sich an einer Stelle, die leichter zu verbergen war.
»Was war das?«, fragte ich sanft. Wir waren keine Feindinnen mehr. Ich war mir nicht sicher, ob wir das überhaupt jemals gewesen waren; wir hatten einander nur verstehen müssen.
Sie schüttelte
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