Schlangenhaus - Thriller
»Ich gebe euch die Macht, zu treten auf Schlangen und Skorpione, und Macht über alle Gewalt des Feindes; und nichts wird euch schaden.«
Rubys Stimme war lauter geworden, viel zu laut. Irgendjemand würde sie hören und unserem Unfug ein Ende machen, mit Tee und zwei Keksen. »Lukas, Kapitel zehn«, verkündete sie stolz. »Das hat er gesagt, als er die Schlange umhergetragen
und alle, die vom Geist Gottes gesegnet worden waren, aufgefordert hat, sie selbst anzufassen.«
Ich versuchte, mir das nötige Ausmaß an kollektiver Verblendung vorzustellen, damit normale, rationale Menschen zuließen, dass eine Klapperschlange zwischen ihnen herumgetragen wurde.
»Und die Leute haben es getan?«, fragte ich.
Ruby nickte. »Nur die Gesegneten. Die, die nicht gesegnet waren, haben die Köpfe eingezogen und gebetet.«
Darauf möchte ich wetten, dachte ich bei mir. »Wer hat die Schlangen noch angefasst?«
Mittlerweile ist Reverend Fain seit drei Monaten bei ihnen, und etlichen Dorfbewohnern ist die Gabe zuteilgeworden, Schlangen mit bloßen Händen zu berühren. Ruby sieht, wie John Dodds auf den Kasten zugeht und hineingreift. Er hebt eine Schlange hoch, kleiner als die Erste und von eher grauer Farbe, und hängt sie sich um die Schultern. Dann steht er da und genießt es, wie die Augen der Gemeinde auf ihm ruhen, während die Schlange an seinem Körper hinabgleitet und sich um seinen rechten Arm windet. Peter Morfet tritt ebenfalls zu dem Kasten, gefolgt von Raymond Gillard. Ruby würde gern zusehen, doch der Reverend kommt näher; jetzt oder nie.
Sie steht auf, schaut in diese winterblauen Augen und verspürt einen elektrischen Schlag, der zwischen ihren Beinen beginnt und durch ihren ganzen Körper fließt. Es ist das Zeichen, auf das sie gewartet hat. Sie streckt beide Arme aus, der Reverend beugt sich vor, und sie hält die Schlange in den Händen. Da sie etwas Nasses, Schleimiges erwartet hat, ist sie erstaunt, den warmen, muskulösen Leib der Schlange durch ihre Finger gleiten zu fühlen. Ohne nachzudenken, senkt sie den Blick bis knapp unter den Gürtel des Reverend und fühlt, wie sich tief in ihrem eigenen Körper etwas regt. Mit brennendem, hochrotem Gesicht reicht sie dem Reverend die Schlange zurück. Er lächelt sie an, murmelt einen Segensspruch und geht weiter. Ruby fällt auf die Knie.
»Ich glaube, ich war niemals glücklicher«, sagte Ruby. »Ich hatte den Heiligen Geist empfangen, war mit einer der Gaben gesegnet worden. Ich wollte einfach nur beten und beten und…«
»Wann sind die Schlange ausgebrochen? War der Gottesdienst da schon vorbei?«
Sie sah mich an, als wäre ich begriffsstutzig. »Sie haben kein Wort von dem gehört, was ich gesagt habe, nicht wahr? Das war kein gewöhnlicher Gottesdienst. Das war nur der Anfang. Wir wollten Ulfred auferstehen lassen.«
»Auferstehen?« Inständig hoffte ich, dass ich Ruby nicht richtig verstanden hatte, fürchtete jedoch gleichzeitig, dass das ganz und gar nicht der Fall war. Ich musste an Dads Arbeitszimmer denken. An das schwarz-orangerote Büchlein von Reverend Franklin Hall. Formel für …
»Ja, auferstehen«, bestätigte Ruby. »Von den Toten.«
Die Schlangen sind jetzt fort, der Kasten steht vergessen neben dem Altar, und Peter Morfet und Raymond Gillard entriegeln die großen hölzernen Falltüren ganz vorn im Kirchenschiff, gleich unterhalb der Altarstufen. Die Gemeinde ist wieder verstummt: Alles Beten, alles Singen hat aufgehört. Alle sehen zu, wie die Vorhängeschlösser geöffnet, die Riegel zurückgezogen und die Türen aufgezogen werden. Ruby reckt auf ihrem Platz den Hals, um einen Blick auf das stille, schwarze Wasser zu erhaschen, das im Kerzenlicht schimmert.
Einer der zahlreichen unterirdischen Wasserläufe des Dorfes speist das neu gegrabene Taufbecken. Ruby hat in den letzten drei Monaten miterlebt, wie etliche Leute aus dem Dorf getauft worden sind, und sie wartete auf Nachricht für ihre eigene Taufe. Obwohl sie weiß, dass es gottlos ist, kann sie nicht anders, sie fragt sich insgeheim, wie kalt das Wasser wohl sein wird und ob in seiner Tiefe irgendetwas lebt.
Die Tür zur Sakristei geht auf und eine seltsame Prozession betritt die Kirche. Archie Witcher, groß und stattlich – ein bisschen
wie Reverend Fain, besonders in seiner Amtstracht –, kommt als Erster. Hinter ihm geht Saul Witcher, der zwei Holzstangen schleppt, eine unter jedem Arm. Saul tritt weiter ins Kirchenschiff vor, und die Gemeinde beugt sich
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