Schlangenhaus - Thriller
man kaum still sitzen, als wollte man aufspringen und schreien oder sich auf den Boden werfen und sich dem Herrn darbieten.«
»Hat er gut ausgesehen?«, erkundigte ich mich. Ruby streckte den Arm aus und ergriff meine Hand.
»Der schönste Mann, den Sie je gesehen haben«, bestätigte sie mit glitzernden Augen. »Groß wie eine Eiche«, fuhr sie fort, und ihr Daumen begann, kleine Kreise auf meine Handfläche zu malen. »Dichtes schwarzes Haar, Augen wie der Himmel im Winter.«
Ich zerrte, und es gelang mir, ihr meine Hand zu entziehen. Sogar ich kann religiöse Inbrunst von sexueller Erregung unterscheiden. Eine machtvolle, fünfzig Jahre alte Erinnerung hatte Ruby fest im Griff.
»Er hat auf uns gewartet, als wir in die Kirche kamen«, sagte sie. »Hat gleich vor dem Altar gestanden. Er hat ausgesehen wie der Heilige Geist, der über uns in den Wolken schwebt.«
Ruby drehte allmählich durch. Oder…
»War Licht in der Kirche?«, erkundigte ich mich. Sie schüttelte den Kopf. »Kerzen«, antwortete sie, und ihre Augen leuchteten. »Überall Kerzen. Man hat fast keine Luft bekommen, alles war voller Rauch. Und ich konnte noch etwas anderes riechen, heiligen Weihrauch.«
Ich hatte noch nie gehört, dass die Pfingstkirchen Weihrauch verwendeten. Insgeheim fragte ich mich, ob an jenem
Abend vielleicht eine halluzinogene Droge in der Kirche verbrannt worden war.
»Ruby«, fragte ich, »waren die Witchers in der Kirche?«
Rubys Gesichtsausdruck veränderte sich. »Edeline war da«, spie sie mir entgegen. »Ganz vorn, hat mit ihrem Haar rumgewedelt. Ich habe nie geglaubt, dass das alles echt war.« Ruby beugte sich zu mir vor. Ich kämpfte gegen die Versuchung an, zurückzuweichen.
»Wieso sollte der Herr denn jedes Mal die Knöpfe an ihrer Bluse aufgehen lassen?«, wollte sie von mir wissen. »Sie war immer die Erste, die umgekippt ist, wissen Sie. Immer ganz nahe beim Reverend.«
Die alten Leute schienen sich über Walters Frau einig zu sein. Doch es war nicht Edeline, die mich interessierte. »Was ist mit den andren?«, fragte ich. »Die Männer der Familie Witcher? Walter?«
»Walter ist nie hingegangen«, antwortete sie mit der Andeutung eines Kopfschüttelns. »Walter war ein guter Mensch.«
Ich starrte sie an. »Und die anderen«, drängte ich, ehe sie begreifen konnte, was sie gerade gesagt hatte. »Saul, Archie, Harry, Ulfred?«
Wieder veränderte sich ihr Gesicht, und ich spürte, wie sie sich vor mir zurückzog. Sie schaute zur Tür. »Bald bringen sie uns Tee«, sagte sie. »Tee und einen Keks. Zwei, wenn wir uns gut betragen haben.«
»Ruby, bitte erzählen Sie weiter.«
Eine Zeitlang folgt der Gottesdienst vertrauten Pfaden. Der Reverend predigt, die Leute beten. Hin und wieder springt jemand aus der Gemeinde vom Heiligen Geist beseelt auf und preist den Herrn aus vollem Halse. Hinter Ruby ist Florence Allington in Trance gesunken. Ruby überlegt, wie bald sie ihre eigene Ohnmacht ansetzen soll. Sie riskiert einen kurzen Blick, um sicherzugehen, dass die Gebetsmatten an der Stelle den kalten Steinboden bedecken, wo sie hinfallen wird.
Beinahe hätte ich gefragt, ob Florence Allington mit John verwandt gewesen war, doch ich wollte nicht, dass Ruby abschweifte.
»Sind Sie ohnmächtig geworden?«, erkundigte ich mich. »Ich meine, sind Sie in Trance gesunken?«
Sie nickte. »Das war gar nicht schwer«, meinte sie. »Besonders wenn man nichts gegessen hatte. Man hat ein paar Mal tief geatmet und dann die Luft angehalten. Die Kirche ist an den Rändern ganz schwarz geworden, und man konnte umfallen.«
Ich hörte Bewegung auf dem Flur. Ein Stück entfernt, doch ich ahnte, dass meine Zeit knapp war. »Was ist mit den Schlangen, Ruby? Es sind noch mehr Leute gebissen worden, nicht wahr? Außer Ihnen? An diesem Abend sind doch Menschen umgekommen?«
Die Klapperschlangen sind in einem großen Holzkasten mit geschnitzten Rosen und Efeublättern drauf. Von ihrem Platz auf dem Boden aus sieht Ruby zu, wie Harry Witcher ihn aus der Sakristei herbeiträgt. Sie erhebt sich auf die Knie, nimmt ihren Platz auf der Kirchenbank wieder ein und betet darum, dass sie diesmal – heute Abend – die Gabe des Heiligen Geistes empfangen wird und die Schlange anfassen kann.
Reverend Fain greift in den Kasten und holt eine Schlange hervor: anderthalb Meter lang, braun mit schwarzem Muster und dick um die Körpermitte. Er hält sie zwischen den Händen und schreitet auf die Gemeinde zu. »Seht«, sagte er.
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