Schlangenhaus - Thriller
den Kopf. »Hab ich nie gewusst. Da war ein ganzes Dutzend davon. Die meisten waren braun. Ein paar waren grau. Muster auf dem Rücken, und sie haben mit den Schwänzen Geräusche gemacht. So eine Art …«
»Rasseln?« Natürlich, dachte ich, was denn sonst?
Sie nickte. »Ja, genau. Ein Rasseln. Wir sind natürlich alle weggelaufen, als sie ausgebrochen sind, aber wir müssen sie wohl erschreckt haben. Sie waren überall. Die hier hat mich
an der Tür erwischt. Ich hatte keine Ahnung, dass etwas so wehtun kann.«
Ich beugte mich näher zu ihr. »Es tut mir leid. Wirklich. Aber das heißt, dass Sie wissen, wie wichtig das hier ist. Sie müssen mir erzählen, was an dem Abend damals passiert ist.«
Sie starrte mich lange an. »Ich war völlig ausgehungert«, sagte sie endlich. »Mehr als ausgehungert sogar. Die Hungerschmerzen hatten aufgehört, aber ich hatte keine Kraft mehr. Ich konnte nicht einmal mehr klar denken. Ein bisschen war’s so, als wenn man im Stehen einschläft.«
Eine Kirche, die ihre Gemeinde hatte hungern lassen. Mir fiel wieder ein, was Dad mir erzählt hatte, dass die Latter Rain Church die Menschen zu wochenlangem Fasten und Beten drängte. Das junge Mädchen, das in South Carolina gestorben war, ein Mitglied von Archie Witchers Gemeinde.
»Aber ich hatte an dem Abend ein so hoffnungsvolles Gefühl«, fuhr Ruby fort. »Ich dachte, es würde mir endlich widerfahren. Dass ich in Zungen reden und eine Schlange aufheben würde.«
Sie richtete sich auf, beugte sich in ihrem Sessel vor und hob die Stimme.
»Die Zeichen aber, die folgen werden denen, die da glauben«, rezitierte sie, »sind diese: In meinem Namen werden sie böse Geister austreiben, in neuen Zungen reden, Schlangen mit den Händen hochheben, und wenn sie etwas Tödliches trinken, so wird’s ihnen nicht schaden; auf Kranke werden sie die Hände legen …«
»Ruby!«
Ruckartig kehrte ihre Aufmerksamkeit zu mir zurück, doch einen Augenblick lang hatte der Blick in ihren Augen mir Angst gemacht. Ich war mir nicht mehr sicher, dass ich es hier mit jemand zu tun hatte, der völlig klaren Verstandes war. Doch ich blieb still sitzen und hörte zu, als sie mir erzählte, was an jenem Sonntagabend vor fünfzig Jahren geschehen war.
42
Sonntag, 15. Juni 1958
Die kleine Straße ist dunkel, aber sie ist nicht still. Niemand spricht, doch leise Geräusche erfüllen die Luft; Schultern streifen die Hecke, Schritte knirschen über Steine, Flügel schlagen hoch oben in der Luft. Von einem Baum in der Nähe schimpft ein Käuzchen herüber. Etliche der Dorfbewohner haben Lampen, doch das Licht, das sie verbreiten, wirkt dürftig. Noch mehr Menschen gesellen sich zu der Menge, als die Prozession sich langsam und stetig der Kirche nähert.
Sie schreiten durch die Allee aus Linden. Die Jüngste unter ihnen, die 20-jährige Ruby Buckler, ist nach fünf Tagen des selbst auferlegten Fastens einer Ohnmacht nahe; sie stolpert und fällt beinahe hin. Starke Arme fassen sie von hinten und stützen sie, ehe sie sanft weitergeschoben wird.
Die steinerne Kirche erscheint ungeheuer groß. Die Farben der Buntglasfenster sind stumpf, wie ungeschliffene Edelsteine, ganz schwach flackert Licht hinter ihnen. Der Pfad macht eine Biegung, und die Prozession der Dorfbewohner tut es ihm gleich. Das Nordtor der Kirche steht bereits offen.
Einer nach dem anderen überschreiten die schweigenden Mitglieder der sich versammelnden Gemeinde die Schwelle. Bald sind die Kirchenbänke besetzt. Ein Fremder könnte glauben, das ganze Dorf sei anwesend, doch Ruby weiß, dass es nicht so ist. Manche konnten nicht kommen, wie ihre Freundin Violet, die zu Hause auf ihre kleinen Geschwister aufpasst. Andere, das weiß sie, werden nicht kommen. Selbst nach allem, was sie gesehen und gehört haben, weigern sich manche Leute immer noch, das Wahre Wort des Herrn zu vernehmen. Und sie wollen auch nichts mit Reverend Fain zu schaffen haben.
Ruby blinzelt, ihre Augen brennen bereits vom Rauch. Sie kann etwas in der Luft riechen, das kein Kerzenrauch ist: etwas Schweres, Fremdartiges, fast erstickend in seiner Eindringlichkeit. Und ganz vorn in der Kirche steht eine riesenhafte Gestalt, ganz in Schwarz gekleidet. Ruby verspürt ein Prickeln in ihrer leeren Magengrube. Es ist Reverend Joel Morgan Fain.
»Er hatte so eine Art, der Reverend«, meinte Ruby. »Da hat man sich gefühlt – ach, ich kann es gar nicht beschreiben –, als ob Strom durch einen durchläuft, als könnte
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