Schlangenhaus - Thriller
vor, um zu sehen, was dort vor sich geht. Ein hölzerner Stuhl, alt, aber stabil, ist an den beiden Holzstangen befestigt. Jetzt kann Ruby Harry Witcher sehen, der das andere Ende der Stangen trägt. Zwischen ihnen, hoch erhoben wie ein altertümlicher König, der in der Schlacht gefangen genommen worden ist, thront Ulfred. Dicke Stricke fesseln ihn an den Stuhl, sie fangen an seinen Knöcheln an und winden sich hoch bis zu seinem Hals. Sein Mund ist mit einem blauen Tuch zugebunden, und seine Augen, wenngleich offen, blicken stumpf und ziellos.
Ruby faltet fest die Hände und zwingt sich, weiterzubeten. Etwas, das sich wie Panik anfühlt, windet sich in ihrem Magen.
Saul und Harry durchschreiten langsam den Altarraum und erreichen die Stufen, Archie ihnen voran. Ulfred fängt an zu zappeln, an den Stricken zu zerren, die ihn so fest binden, dass er sich kaum rühren kann. Ruby stellt fest, dass sie am liebsten die Flucht ergreifen, aus der Kirche stürzen und nicht mit ansehen müssen möchte, was als Nächstes geschehen wird. Sie versucht, noch inbrünstiger zu beten, doch es fällt ihr schwer, sich selbst der simpelsten Gebete zu entsinnen.
Man hat ihr alles erklärt. Ulfred ist besessen. Deshalb kann er nicht sprechen, kann kaum etwas sehen, deshalb gibt er diese sonderbaren, furchterregenden Laute von sich. Außerdem ist das der Grund, weshalb er so eine seltsame Macht über Schlangen hat. Es ist nicht die Macht des Herrn, die es Ulfred gestattet, Schlangen mit den Händen zu greifen, ohne dass ihm ein Leid geschieht, hat Reverend Fain ihr erklärt. Ulfreds Macht kommt von der Urschlange des Gartens Eden. Vom Teufel selbst.
»Vater unser«, betet Ruby. »Vater unser.« Wenn ihr nur mehr einfallen würde, vielleicht hätte sie dann nicht solche Angst. Würde nicht diesen schrecklichen Drang verspüren, sie alle anzuschreien, dass sie aufhören sollen.
Seit er zu ihnen gekommen ist, hat der Reverend viele Male versucht, Ulfred den Teufel auszutreiben, doch der Dämon in ihm ist zu mächtig. Es gebe nur eine Möglichkeit, ihren Bruder Ulfred zu befreien, hat Reverend Fain ihnen letzten Sonntag erklärt, und die bestehe darin, seinen sterblichen Leib fahren zu lassen. Ohne irdische Heimstatt werde der Dämon wieder in die Hölle zurückfliehen. Dann werde Ulfred durch die Macht Gottes von den Toten aufstehen, so wie Christus auferstanden ist, und sein Geist werde rein und frei sein. Er werde sehen und hören und sprechen können. Schlangen würden ihn abstoßen, so wie es allen guten Christenmenschen ergeht. Sie würden das hier für Ulfred tun. Weil sie ihn lieben. Als ihr das erklärt wurde, war Ruby zuerst entsetzt gewesen; sie hatte sich in der Kirche umgeschaut, hatte darauf gewartet, dass sich Protest erhob. Aber …
Saul und Harry setzen den Stuhl ab. Der Dämon in Ulfred ist jetzt außer sich vor Angst, er schaut aus Ulfreds trüben, halb blinden Augen. Der Reverend, dessen Stimme lauter wird, um die grauenvollen Geräusche zu übertönen, die Ulfred macht, führt sie alle im Gebet. Ruby versucht, einzustimmen, doch sie kann nicht. Ihr versagt die Stimme. Sie blickt sich um, und was sie sieht, macht ihr noch mehr Angst: Nur wenige scheinen ihr Grauen zu teilen. Peter Morfet hat den Kopf in die Hände sinken lassen, Florence Allington ist auf die Knie gefallen und weint anscheinend; ihr Mann John schaut immer wieder zur Tür. Vikar Stancey hat sich von seinem Platz erhoben. Die meisten anderen jedoch starren mit glasigen Augen; ihre Lippen murmeln Worte, von denen sie nicht länger glaubt, dass es Gebete sind, während sie den vier Männern zusehen, die sich um den Gefangenen am Taufbecken versammelt haben.
Auf ein Zeichen des Reverend hin kauern Harry und Saul sich nieder. Harry scheint zu stolpern und fast hinzufallen. Dann packen sie abermals die Holzstangen. Ulfred gibt jetzt ein hohes Wimmern von sich, und Ruby möchte die Hände auf ihre Ohren pressen, um das grässliche Geräusch auszusperren. Nur kann das nicht wirklich Ulfred sein, der da klagt, es muss der Dämon in seinem
Inneren sein, der weiß, dass er ausgetrieben werden wird, denn Ulfred, der arme, verrückte Ulfred, würde doch gewiss nicht begreifen, was gleich passieren wird.
Harry und Saul heben die Stange, die der Gemeinde am nächsten ist, mit einem Ruck an, und Ruby schaut schreckensstarr zu, wie der Stuhl umkippt und Ulfred unter Wasser gedrückt wird.
Sie können seine Schreie nicht länger hören, doch ein Schwall
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