Schlangenhaus - Thriller
Küche gekommen, wo sie eingesperrt waren; vielleicht hat meine Schwester die Tür offen gelassen. Sie hatten den ganzen Tag noch nichts zu fressen bekommen. Draußen waren sie auch nicht gewesen. Sie hatten Hunger und wollten toben. Sie sind ins Wohnzimmer gekommen, haben mich auf dem Teppich quietschen hören und sind in Fahrt gekommen. Sie haben immer mit solchen Quietschspielzeugen gespielt, verstehen Sie, sie haben gedacht, ich wäre auch ein Spielzeug. Also haben sie angefangen, mich im Zimmer herumzuzerren … ich glaube, je lauter ich geschrien habe, desto aufgeregter müssen sie geworden sein.«
»Die hätten Sie umbringen können«, flüsterte Ruby.
»Meine Schwester hat gehört, was los war, und ist angerannt gekommen. Sie hat natürlich geschrien, und mein Vater hat sie gehört. Es hat nur ein paar Minuten gedauert, aber als er mich hochgehoben hat, hatten die Hunde schon …«
Ich verstummte. Weniger als zwei Minuten hatte es gedauert, endlich jemandem zu erzählen, wie mein Leben sich so vollständig verändert hatte. Neunundzwanzig Jahre und zwei Minuten.
»Und die Sache ist die, ich erinnere mich an das Ganze. Ich weiß, dass ich mir das einbilde – ich war erst neun Monate alt,
ich kann das unmöglich wirklich noch wissen. Aber es fühlt sich so echt an. Ich erinnere mich an den Atem der Hunde, ganz heiß auf meinem Gesicht, ich kann sogar fühlen, wie mir ihr Speichel übers Kinn läuft. Und die Geräusche, die sie gemacht haben – ihr Kläffen und Winseln, als sie immer wilder geworden sind. Und ich erinnere mich auch daran, meine Mutter gehört zu haben. Das ist das Schlimmste daran. Ich kann mich an sie erinnern, wie sie auf dem Sofa gelegen hat, halb weggetreten. Und sie redet mit den Hunden, sie denkt, die spielen einfach nur mit irgendetwas, sie feuert sie an. Ohne zu ahnen, dass ich es war, womit sie …«
Es war meine Hand, die zitterte, nicht Rubys.
»Meine Schwester hatte auch Albträume«, sagte ich. »Noch sehr lange danach habe ich sie nachts schreien hören.
Sogar jetzt noch kann sie kein Blut sehen. Da war so viel Blut, verstehen Sie, an dem Tag im Wohnzimmer.« Vanessa und ich hatten beide Narben davongetragen, wurde mir klar. Doch die Aufmerksamkeit der Familie hatte sich ausschließlich auf das offenkundig versehrte Kind konzentriert. Vanessa hatte mit vier Jahren allein damit klarkommen müssen.
»Und sie hat schreckliche Angst vor Hunden«, fuhr ich fort und begriff endlich die Bedeutung dessen, was mir stets wie eine irrationale, hysterische Furcht erschienen war. »Ich nicht. Ich habe überhaupt nichts gegen Hunde, aber sie traut sich nicht mal in ihre Nähe. Arme Vanessa.«
»Haben Sie sich jemals gewünscht, sie hätten Sie totgebissen?«, fragte Ruby. Wieder betrachtete sie meine Narbe. »So verunstaltet zu sein als Frau, das ruiniert einem doch das ganze Leben.«
Ich sah Ruby an, die genau die Frage aussprach, die ich mir selbst so oft gestellt hatte: Wäre es besser gewesen, wenn die Hunde mich getötet hätten? Und ich schwöre, in diesem Moment sah ich vor mir eine Tür aufgehen; es war, als sähe ich in Rubys kleiner, trauriger Gestalt meine eigene Zukunft vor mir. Eine Minute lang, vielleicht auch mehr, betrachtete
ich meinen eigenen Geist in fünfzig Jahren: einsam, unerfüllt, von Bitterkeit zerfressen. Und ich traf eine Entscheidung.
»Es ist doch bloß eine Narbe«, sagte ich. »Mein Leben wird sie nicht ruinieren.«
Draußen lehnte ich mich an den Land Rover und schloss die Augen. Endlich hatte ich jemandem die Wahrheit über das erzählt, was mir zugestoßen war, und ich wusste, dass ein Zeitpunkt kommen würde, wo ich froh darüber war. Im Augenblick jedoch war ich einfach nur erschöpft. Besonders, da es den Anschein hatte, dass ich, je mehr ich herausfand, immer weniger wusste. Endlich hatte ich die schrecklichen Ereignisse des Abends in Erfahrung gebracht, an dem die Kirche abgebrannt war. Doch das war so lange her. Selbst wenn irgendjemand das furchtbare Unrecht rächen wollte, das Ulfred angetan worden war, selbst wenn es einen guten Grund dafür gab, dass der Betreffende fünfzig Jahre lang gewartet hatte, wer war denn noch übrig? Seine Schwägerin und zwei seiner vier Brüder waren tot, von einem dritten hatte man seit Jahren nichts mehr gehört, und der verbliebene Bruder war selbst dem Tode nahe.
Es führte kein Weg daran vorbei: Ich hatte keine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart herstellen können, ich war noch immer die
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