Schlangenhaus - Thriller
folge er meinem Gedankengang, fand mein Lampenstrahl einen weiteren Brief, diesmal von einem Anwalt aus der Gegend, der Clives Termin in der nächsten Woche bestätigte, um die Änderung seines Testaments zu besprechen. Im zweiten Absatz wurde dargelegt, dass Clives Nachlass nach dem jetzigen Stand der Dinge an seine Angehörigen gehen würde. Clives Exfrau, erläuterte der Brief, würde nach ihrer großzügigen Scheidungsabfindung allerdings wohl kaum erfolgreich Anspruch auf das Erbe erheben können.
Ich hatte das Haus der ganzen Länge nach durchquert und musste kehrtmachen. Ich schaltete die Taschenlampe aus, und während ich durch die dunklen Zimmer zurückging, überlegte ich, wem Clive seine vielen Millionen wohl zu vermachen gedachte und ob auch sein Onkel Ulfred bedacht werden würde. Und dann fiel mir sein anderer Onkel wieder ein, und ich fragte mich, ob die Aussicht auf ein Erbe wohl genug sein könnte, um Reverend Archie zur Heimkehr zu bewegen.
Als ich in die Eingangshalle zurückkehrte, schaute ich aus dem Fenster. Matts Wagen stand noch immer draußen. Ich ging abermals an dem riesigen Eichentisch vorbei, an Anrichten voller Zinn und altem Porzellan, an jener Ecke, wo fünf alte Leute sich nervös zusammengedrängt hatten. Zwei dieser fünf, Violet und Ernest, waren tot. Wie viele mussten noch sterben, bevor Ulfred zufrieden war?
In der gegenüberliegenden linken Ecke der Halle führten drei kleine Stufen durch einen Bogengang. Dahinter lagen nur Finsternis und wechselnde Schatten. Ich erwog, die Taschenlampe
einzuschalten, doch ich wusste, dass ich damit für jeden, der mich vielleicht beobachtete, ein leichtes Ziel abgab. Die mittlere Stufe knarrte, ich glaubte allerdings nicht, dass irgendjemand außer mir es hätte hören können.
Ich befand mich im hinteren Korridor des Hauses, dort, wo einst die Dienstboten umhergeeilt sein mussten. Eine hölzerne Wendeltreppe wand sich nach oben. Das Ende des Korridors konnte ich nicht sehen, aber Mäntel und Mützen hingen an den Wänden, Gummistiefel standen darunter. Ich wartete ein paar Sekunden, nur um sicherzugehen, dass nichts in dem Wust aus Mänteln, Mützen und Stiefeln lauerte. Dann ging ich weiter.
Der Raum vor mir war das Esszimmer. Noch mehr schwere, dunkle Möbel; noch mehr Porzellan, Gläser und Silberbesteck. Wohnte hier wirklich ein Mann ganz allein? Was für Wahnvorstellungen von Erhabenheit konnten einen Menschen von bescheidener Herkunft dazu verleiten, ein solches Anwesen nur für den Eigengebrauch zu kaufen und zu unterhalten?
Soweit ich sehen konnte, war im Esszimmer alles an seinem Platz. Ich trat wieder auf den Korridor hinaus. Eine Tür zur Rechten führte in eine kleine Küche. An einer Wand stand ein gewaltiger Herd, ihm genau gegenüber befand sich ein Spülstein. In dem Raum hing ein Geruch; ein Geruch, den ich nur allzu gut kannte.
Vorsichtig jetzt, Clara, du bist ganz dicht dran, sagte die ruhige, wohlbekannte Stimme in meinem Kopf.
Eine Tür links von mir führte in eine weitere Küche. Jemand, der mit der Architektur großer Herrenhäuser vertraut war, hätte sie vielleicht als Butlerkammer erkannt, als Spülküche oder sonst etwas; für mich sah es aus wie eine zweite Küche. Ein Spülbecken, etwas, das wie eine große Geschirrspülmaschine aussah und Regale voller Gläser und Besteck. Der Geruch war stärker. Noch eine Tür, noch ein Raum dahinter.
Ich erblickte die glatte, dunkle Pfütze am Boden, bevor ich
der Tür bis auf einen halben Meter nahe gekommen war, und wusste, dass meine Sinne mich nicht getrogen hatten. Den Geruch von frischem Blut kann man wirklich nicht verwechseln.
Ruhig, Clara, ganz ruhig bleiben, sagte die Stimme, nur noch ein paar Schritte.
Ich erinnere mich nicht daran, diese Schritte gemacht zu haben. Ich kann unmöglich sagen, wie viel Zeit zwischen dem Begreifen, was ich vorfinden würde, und dem Augenblick lag, als ich in der dritten Küche des Gutshauses stand und mit der Taschenlampe auf etwas hinunterleuchtete, das früher einmal ein Mensch gewesen war.
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Ich war wieder draußen. Wie ich dorthin gekommen war, werde ich wohl nie genau wissen. Ich lehnte an Matts Wagen; der Regen strömte mir eiskalt über den Kopf, doch ich war froh darüber. Ich blickte auf und sah die Tropfen aus einem unendlichen Himmel auf mich zufallen. Reglos ließ ich sie über mein Gesicht rinnen und wünschte mir, sie könnten auch mein Inneres reinigen, die Erinnerung aus meinem Kopf spülen, den Geruch aus
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