Schlangenhaus - Thriller
doch schließlich gelang es mir, und ich ging die belebte Straße entlang auf das Gotteshaus zu, das im Allgemeinen als eine der schönsten normannischen Kirchen im ganzen Land gilt. Ihr gewaltiger rechteckiger Turm ragte über mir empor und sein Schatten fiel auf den Weg, der vom Tor zur Kirchentür führte. Im Vorraum schob ich den Käfig mit den Eulenküken unter eine Bank. Ich würde den größten Teil des Tages nicht zu Hause sein; mir war nichts anderes übrig geblieben, als sie mitzunehmen.
Sogar durch die dicke Eibenholztür hindurch konnte ich die Stimme des Erzdiakons hören. Aus Erfahrung wusste ich, was für einen Lärm die alten Türflügel beim Öffnen machen konnten und wie sich jeder Kopf in der Kirche herumdrehen würde, um den Eindringling anzustarren. Doch im Laufe der Jahre hatte ich den Trick gelernt. Behutsam drückte ich gegen die Tür, bis ich Widerstand fühlte, und hob die Klinke an, so weit es ging. Dann zog ich die Tür ein kleines Stück zurück und senkte die Klinke. Mit vorsichtigem Druck schwang ich die Tür auf, und sie machte nicht das leiseste Geräusch. Nur George, der alte Kirchenvorsteher, sah mich hereinkommen und in eine leere Bankreihe ganz hinten in der Kirche schlüpfen. Und natürlich auch der Erzdiakon, dem nur wenig entgeht, nicht einmal beim Beten.
Der Gottesdienst neigte sich dem Ende zu. George kam mit Gebets- und Gesangbüchern herbeigehuscht, und es gelang mir, ihm zuzulächeln. Er drückte mir die Schulter und seine Augen füllten sich mit Tränen. Rasch schaute ich weg. Der
Pfarrer kündigte das Schlusslied an, und die Gemeinde erhob sich, mit etwas Verzögerung zum Chor.
Im Laufe der letzten paar Jahrzehnte hat die Mitgliederzahl der anglikanischen Kirchengemeinden rapide abgenommen. Nicht so in meiner Heimatstadt. Der allwöchentliche Sonntagsgottesdienst war normalerweise gut besucht, und heute war keine Ausnahme. Die Stimmen des zwanzigköpfigen Chors wallten auf, und die Gemeinde folgte, mit unterschiedlich großem Talent, aber mit einheitlichem Enthusiasmus. Alle außer mir. Normalerweise singe ich gern in der Kirche, fühle gern, wie sich meine Stimme um mich herum ausbreitet wie eine warme Klangwoge. An diesem Vormittag jedoch war ich nicht mit dem Herzen bei der Sache.
Der Gottesdienst endete, und der Pfarrer hieß uns alle, in Frieden hinzugehen und dem Herrn zu dienen. Die Gemeinde begann, sich zu zerstreuen. Es dauerte lange, wie immer. Jeder wollte einen Händedruck und zwei Minuten Aufmerksamkeit vom Pfarrer, und ganz besonders vom Erzdiakon. Im Laufe der Jahre hatte ich miterlebt, wie er zu einem Meister der persönlichen Begrüßung geworden war. Das kurze, jedoch vollkommen individuelle Geplauder und das warmherzige, sanfte Entlassen. Jeder hatte das Gefühl, absolut willkommen zu sein.
Halb hinter einer gewaltigen Steinsäule versteckt, saß ich mit gesenktem Blick da. Endlich hatten auch die letzten Nachzügler das Kirchenschiff passiert, und ich stand auf. Im Vorraum wartete ich in der Reihe, bis die beiden Geistlichen ihre Schäfchen verabschiedet hatten. Der Pfarrer sah mich, tätschelte mir kurz die Schulter und eilte davon. Ich streckte dem Erzdiakon die Hand hin. Er zögerte kurz, ehe er sie ergriff, und ich hatte Zeit, zu bemerken, dass er ein bisschen dünner zu sein schien als beim letzten Mal, dass sein Haar ein wenig ungepflegt aussah und dass es eindeutig lichter geworden war. Auf seiner Stirn waren trockene Hautstellen, seine Augen, so kam es mir vor, hatten einen winzigen Bruchteil ihrer Farbe
eingebüßt. Doch als er meine Hand ergriff, fühlte sich sein Griff so weich und warm und stark an wie immer. Ich sah, wie sehr er mich brauchte, und war froh, dass ich nach Hause gekommen war.
»Hallo, Dad«, sagte ich. Das war alles, wozu ich fähig war.
Arm in Arm gingen wir die Straße entlang zu dem Haus, das früher mein Zuhause gewesen war. Vor fast dreißig Jahren waren wir dort angekommen, die Familie Benning: Dad, der strahlende aufgehende Stern am Kirchenhimmel, mit dreiundvierzig der jüngste Geistliche, der jemals zum Erzdiakon ernannt worden war, seine Frau Marion, zwanzig Jahre jünger als er und schon jetzt unzufrieden mit dem ländlichen Kirchenleben, die älteste Tochter Vanessa, eine altkluge Fünfjährige, und ich, ein neun Monate altes Baby. Wir hatten damit gerechnet, höchstens zehn Jahre hier zu wohnen, bis Dad zum Bischof geweiht wurde und wir weiterzogen, stets vorwärts und aufwärts. Das war nicht geschehen.
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