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Schlangenhaus - Thriller

Schlangenhaus - Thriller

Titel: Schlangenhaus - Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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Ruby«, rief sie und bedeutete mir, einzutreten. Ich verspürte ein Aufwallen des Mitleids mit Ruby, die nicht auf meinen Besuch vorbereitet worden war, die möglicherweise schlief und die nicht einmal gefragt worden war, ob sie mich sehen wollte oder nicht.
    Hätte man sie vor diese Wahl gestellt, so wurde mir klar, als ich eintrat, hätte sie wohl mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dankend abgelehnt.
    Denn bei meinem Anblick öffneten sich Rubys Augen weit, wie die eines Wildtiers, das nachts beim Überqueren einer dunklen Straße gestellt wird. Dann schoss ihr Blick zu dem ungemachten Bett zu ihrer Linken hinüber, nach rechts, wo Bücherregale eine Wand säumten, hinab zu dem braunen Teppich mit Blumenmuster und dann wieder zurück zu meinem
Gesicht. Sie schauderte – bei ihrem alten, gebrechlichen Körper sah es aus wie ein Krampf – und schien in ihren Sessel hineinzuschrumpfen. Ihre kurzen, dürren Finger packten die hölzernen Armlehnen, als sie mit einem Gesichtsausdruck zu mir aufschaute, den man nur als Abscheu bezeichnen konnte.
    Kenne ich alles schon, Ruby.
    Sie saß vor einer Terrassentür. Der Blick in den kleinen Garten war nicht gerade inspirierend – ein unkrautdurchsetzter Rasen, ein paar öde Büsche –, doch dahinter konnte man das Meer sehen. Am Horizont zogen die weißen Segel der Jachten langsam von Osten nach Westen.
    Als ich mich im Zimmer umsah, entdeckte ich einen kleinen, bestickten Fußschemel und zog ihn zu Rubys Sessel hinüber – aber nicht zu nahe. Dann ließ ich mein Haar über die linke Seite meines Gesichts fallen, drehte mich im Sitzen leicht, so dass ich ihr das Halbprofil zuwandte, und erklärte ihr, wer ich sei. Dass ich in dem Dorf wohnte, in dem sie früher gelebt hatte, ihre alte Freundin Violet kannte und gern die Gemeindeblätter durchsehen würde.
    Sie antwortete nicht, doch ich wusste, dass sie mich verstand, denn ihr Blick huschte zu dem Regal hinter mir hinüber. Auf einem der Borde hatte ich bereits mehrere Pappschachteln bemerkt, säuberlich aufgestapelt, jede beschriftet und datiert.
    »Miss Mottram, ich versuche, ein bisschen mehr über eine Familie in Erfahrung zu bringen, die in dem Dorf gelebt hat, die Witchers. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich ein paar von Ihren alten Gemeindeblättern durchsehe?«
    Rubys Blick hatte nie länger als eine Sekunde auf ein und demselben Gegenstand geruht, seit ich das Zimmer betreten hatte. Mittlerweile huschte er auf dem kleinen Couchtisch hin und her, der rechts von ihr stand. Ihre Hand schnellte vor und packte eine Fernbedienung. Sie drückte auf einen Knopf, und der Fernseher in der Zimmerecke erwachte flackernd zum Leben.

    »Ruby?«
    Als Antwort drückte sie auf einen anderen Knopf, und der Fernseher wurde lauter. Sie würde einfach so tun, als wäre ich nicht da.
    Ich sagte mir, dass ich mir das nicht zu Herzen nehmen sollte – sie war alt, hatte wahrscheinlich kaum noch Umgang mit Menschen und konnte durchaus an allen möglichen degenerativen Alterserkrankungen leiden. Also ging ich einfach so zu dem Regal hinüber. Wenn sie verlangte, dass ich die Finger davon ließ, würde ich es tun, aber ansonsten …
    Ich ließ den Blick über das Bord wandern. Die sechste Schachtel enthielt Ausgaben von 1950 bis 1960. Ich wandte mich wieder an Ruby.
    »Ruby, macht es Ihnen etwas aus, wenn ich…« Ich deutete auf die Schachtel. Sie beachtete mich nicht. Ich nahm die Schachtel herunter und kniete auf dem Teppich nieder, wo ich den Inhalt inspizierte. Die Ausgabe für Juli 1958 war rasch gefunden, und ich blätterte die Seiten durch. Über den Kirchenbrand stand dort nichts, obgleich das Mitteilungsblatt eine knappe Woche oder so nach dem Ereignis gedruckt worden sein musste.
    Auch über die Witchers war nichts zu finden. Ich ging die August- und die Septemberausgabe durch. Im Oktober fand ich die Bekanntgabe der Heirat von Violet Neasden und Jim Buckler in der nahen St. Nicholas-Kirche, aber nichts über den Brand in St. Birinius, nichts über die Witcher-Brüder.
    Ein Blick auf meine Armbanduhr verriet mir, dass mir bis zum Abendessen noch zehn Minuten blieben. Aufs Geratewohl griff ich in die Schachtel, zog eine Ausgabe heraus und blätterte sie durch. Nichts. Ich versuchte es wieder und dann noch einmal. Am liebsten wollte ich die Hefte mitnehmen und sie zu Hause in Ruhe studieren, doch ich bezweifelte, dass Ruby damit einverstanden sein würde. Jedes Mal, wenn ich aufschaute, schien sie wie gebannt auf den

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