Schlangenhaus - Thriller
umsehen musste. Wenn Ulfreds Leichnam nie geborgen worden war, dann könnte eine Steintafel in der Kirche das einzige Zeugnis sein, das noch übrig war.
Ich ging zwischen den Grabsteinen hindurch und erreichte die Vordertür der Kirche. Der eine verbliebene Türflügel schlug heftig gegen den Türrahmen. Ich trat ein.
War dies wirklich ein Haus Gottes, das ich gerade betreten hatte? Als ich dort im hinteren Teil des Kirchenschiffs stand, wo die dunklen Mauern hoch über mir aufragten, und zusah, wie die Wolken da, wo die Decke teilweise eingestürzt war, über den Himmel jagten, bezweifelte ich, dass sich diese Kirche jemals wie ein Ort des Friedens angefühlt hatte. Jetzt, nachdem so viele Jahre keine Andacht mehr abgehalten worden war, schien sie ein Hort alter, schlimmer Erinnerungen und finsterer Geheimnisse zu sein.
Und so viel größer, als ich ihrer äußeren Hülle nach erwartet hatte. Die Steinbögen strebten empor und trugen gerade eben noch die verkohlten, vom Feuer zerfressenen Deckenbalken. Vor mir, im Kirchenschiff aufgereiht wie eine vergessene Armee, standen die kohlschwarzen Kirchenbänke, leer und dem Verfall preisgegeben.
Innerhalb der Kirchenmauer schützte mich nichts vor dem Gestank der Fledermauskolonie, und von der Mischung aus faulendem Fleisch und Exkrementen wurde mir übel. Der Wind heulte, Fledermäuse kreischten und trockene Blätter zischten und raschelten.
Ich hatte nicht über das nachdenken wollen, was Violet mir erzählt hatte, an diesem Ort jedoch, wo sich vieles davon abgespielt hatte, war es unmöglich, nicht daran zu denken. Als ich nach vorn schaute, dorthin, wo das Altargitter den Altar vom Rest der Kirche trennte, war es, als wäre Ulfred noch immer dort, gefesselt, schwach vor Hunger, verwirrt und verängstigt. Fast konnte ich die Gemeinde sehen, die sich um ihn scharte, für die Erlösung seiner Seele betete, während der Pfarrer die uralten Beschwörungsformeln des Exorzismus murmelte.
Armer Ulfred.
Gedenktafeln werden für gewöhnlich an den Wänden angebracht.
Ich ging zu einer der Seitenwände und leuchtete sie sorgfältig mit der Taschenlampe ab. Früher hatte die Kirche einmal Buntglasfenster gehabt. Die Hitze des Feuers hatte das Glas jedoch schmelzen und Ströme aus Farbe über die verzierten Fenstersimse fließen lassen – noch immer leuchtend grell nach all den Jahren. Im Mondlicht war die Farbe, die sich am deutlichsten abhob, Rot. Die Reste des einst geschmolzenen Karminrot strömten die Mauern hinab und über den mit Steinplatten bedeckten Boden, und in jener Nacht kam es mir in meinem erregten Zustand so vor, als schwimme die alte Kirche in Blut.
Ich verließ das Kirchenschiff und stieg die Stufen zum Altar hinauf. Von hier aus, im vorderen Teil, konnte man leichter erkennen, wie das Gebäude einmal ausgesehen haben musste. Rechts und links von mir waren die jeweils drei Reihen Chorgestühl noch intakt. Einst war Gesang von ihnen aufgestiegen, jetzt jedoch standen sie mürrisch und schweigend da und ihre reich geschnitzten Verzierungen waren schwarz vom Alter. Die Sitzbank lag umgekippt vor der Orgel. Das Instrument selbst war noch immer Achtung gebietend, noch immer schön.
Meine Mutter hatte regelmäßig die Kirchenorgel gespielt, bis ihre »Gesundheit« nicht mehr verlässlich genug gewesen war. Besonders gern hatte sie bei Hochzeiten gespielt, und ich erinnerte mich daran, wie ich neben ihr gesessen hatte, vor den Blicken der Gemeinde verborgen, die Noten für sie umgeblättert und verstohlene Blicke auf die (zumindest in meinen Kinderaugen) wunderschönen Kleider des Brautzuges geworfen hatte.
Von meinem Vorzugsplatz unter den Orgelpfeifen aus konnte ich mit ansehen, was so ziemlich allen anderen in der Kirchengemeinde verwehrt gewesen war: den intimen Augenblick des Ehegelübdes. Jedes Mal wartete ich auf das erste Schimmern der Tränen in den Augen der Braut und konnte kaum an mich halten, auf das Beben in der Stimme des Bräutigams, auf ihre Erleichterung, wenn die Ringe sicher über die Fingerknöchel
geglitten waren und der schwierige Teil vorüber war. Bald kannte ich diese Worte auswendig, ertappte mich dabei, wie ich sie lautlos mitsprach, und ich glaube, hätte eine Braut jemals vergessen, was sie wiederholen sollte, so wäre die Gemeinde von dem kleinen Stimmchen überrascht worden, das aus der Kulisse heraus soufflierte.
Doch es gab einen Teil der Hochzeitszeremonie, bei dem ich nie zusehen konnte, eine Stelle, bei der ich
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