Schlangenhaus - Thriller
unweigerlich den Blick abwandte, nachschaute, wo wir gerade auf dem Notenblatt angelangt waren und sogar einen tröstenden Händedruck meiner Mutter suchte: den Augenblick, wenn der Schleier vom Gesicht der Braut gehoben wurde.
Ich hatte nicht annähernd so viel Talent wie meine Mutter, doch ich konnte ein paar sehr einfache Stücke auf einer Kirchenorgel spielen, und als ich an diesem Abend dort stand, in Erinnerungen versunken, verspürte ich das lächerliche Bedürfnis, die Bank aufzuheben und sie wieder richtig hinzustellen, mich hinzusetzen und die Tasten zu berühren. Was für ein Geräusch würde das Instrument wohl machen, nach all dieser Zeit? Würde es im Dorf zu hören sein, würden die Leute angerannt kommen, um zu sehen, wer an dem Lärm schuld war?
Blöde Idee, doch irgendetwas drängte mich vorwärts, hob meinen linken Fuß, um ein Pedal zu treten, nahm meinen rechten Mittelfinger und legte ihn nachdrücklich auf eine der Tasten.
Die Orgel antwortete augenblicklich, sie schrie auf, ein Geräusch wie ein Schmerzenslaut. Als der schrille Ton in der Ruine widerhallte, stieg ein wirbelnder Schwarm Fledermäuse auf und übertönte das verklingende Dröhnen mit ihren hohen Schreien. Draußen begannen die Raben, abermals zu kreisen. Ich merkte, dass ich zitterte. Das war keine gute Idee gewesen. Diese Zeiten waren vorbei.
Ich kam an den Fenstern an der Vorderseite der Kirche vorbei: drei große Steinbögen, nach Osten gewandt, der größte
ungefähr sieben Meter über mir. Bunte Glassplitter lagen wie unbearbeitete Edelsteine auf dem Boden.
Kerzenhalter, stumpf und düster, standen auf dem Altar. An der Südmauer hing ein großer Wandteppich. Einen Augenblick lang versuchte ich, die Szene zu erkennen, die darauf abgebildet war, doch er war zu sehr von Feuchtigkeit und Schimmel verfärbt. Jetzt gab es für mich nichts mehr zu tun, als an der südlichen Mauer entlang zurückzugehen und nach in Stein gemeißelten Worten Ausschau zu halten. Ein Gefühl des Verzagens durchdrang mich wie die frostige Kälte in der Kirche.
Denn was hatte ich nach so vielen Stunden des Detektivspielens vorzuweisen?
Walter war immer noch verschwunden. Ich hatte ein bisschen mehr über Saul Witcher in Erfahrung gebracht, hatte jedoch bei dem Versuch, ihn aufzuspüren, keine nennenswerten Fortschritte gemacht. Ebenso wenig hatte ich irgendeine echte Spur von Ulfred aufgetrieben, nur die Aussage zweier seiner Zeitgenossinnen – Violet und Ruby –, dass er ertrunken sei. Ruby war natürlich noch einen Schritt weitergegangen. »Sie haben ihn ertränkt« , hatte sie gesagt. Wenn sie recht hatte … nun, das war ein ziemlich großes Wespennest, das darauf wartete, dass jemand hineinstach.
Ich stand auf der Kirchenschwelle und wollte gerade in den Vorraum treten, als ich eine Bewegung sah. Es war so eine Wahrnehmung aus den Augenwinkeln, blitzschnell wieder vorbei, doch ich war mir sicher, eine hochgewachsene, dunkle Gestalt hinter dem Altar gesehen zu haben. Ich fuhr herum, während das Herz in meiner Brust hämmerte, und spürte, wie mir der Boden unter den Füßen wegrutschte.Vor lauter Aufregung ließ ich die Taschenlampe fallen.
Schwer und laut fiel sie auf den Boden, und eine Schar Raben stob wie Schrotkörner aus einer Flinte über den Himmel. Ich sah Schutt von oben herabfallen, hörte ihn auf die Steinplatten prasseln und ins Wasser platschen.
An der Vorderseite der Kirche verharrten die Schatten alle regungslos. Wieder wandte ich mich zum Gehen. Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, und ich wollte nur noch hier raus. Ich duckte mich durch die Türöffnung in den Vorraum.
Ins Wasser platschen?
Und noch einmal machte ich kehrt, zwang mich dazu, von Neuem den Mittelgang hinaufzugehen, den Blick wachsam auf die Schatten gerichtet. Ich näherte mich dem Altargitter und konnte etwas erkennen, das wie eine große hölzerne Kellerklappe aussah und direkt vor den Stufen in den Boden eingelassen war. Vorhin hatte ich sie übersehen; die Erinnerung an meine Mutter und ihre Kirchenmusik war eine starke Verlockung gewesen. Die Klappe war einst Teil einer Doppelfalltür gewesen; die andere Hälfte fehlte, und an ihrer Stelle wichen die Steinplatten einer weichen, schimmernden Schwärze. Ich ging näher heran und trat in den Gestank stehenden Wassers hinein. Am Rand des Pfuhls kroch Moos hervor.
Ich hob einen Stein vom Boden auf und ließ ihn fallen.
Plop!
Alle Geschöpfe in der Kirche hielten den Atem an. Das Wasser in dem
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