Schlangenkopf
könnte ihn verraten, und doch zögert er. Joseph Fitzgerald Kaminski fällt ihm ein und die Nummer des Anrufers – oder der Anruferin –, die er vom Handy des Amerikaners auf das seine übertragen hatte. Fast lockt es ihn, ein Spielchen damit zu treiben.
Er geht – sich immer im Dunkeln haltend – an den beiden Torflügeln und an der alten Werkstatt vorbei bis zur Ecke des Schuppens und bleibt neben einem Stapel von Zaunlatten stehen, die dann doch nicht gebraucht wurden, als Barbara darauf verfiel, eine Rhododendronhecke zu pflanzen. Er wendet sich zum Haus, vor sich ahnt er rechts die Rhododendren, weiter links steht der alte Apfelbaum und hängt kahle Zweige ins hell erleuchtete Rechteck des Küchenfensters. Sieht so das Drehbuch aus? Olga könnte vom Dorf her kommen, entlang der Gärten und an der Rückseite des Schuppens vorbei, von niemandem gesehen, kurzes Innehalten im Schutz des Apfelbaums, dann die Pistole in beide Hände genommen, ein paar schnelle lautlose Schritte, die Scheibe eingeschlagen und das Magazin leer geschossen?
Nein, entscheidet er. Zu laut. Zu groß das Risiko, dass Zeugen überleben. Oder dass die falschen Leute am Tisch sitzen.
Was dann? Für einen Augenblick fällt ihn Resignation an. Er ist alt, und diese junge Frau ist ihm über. Ihr Hass hat eine Lebenskraft, der er nichts mehr entgegenzusetzen hat. Ein Jegliches hat seine Zeit, und die seine ist jetzt gekommen … Plötzlich schrickt er aus seinem Brüten auf. Irgendetwas – oder irgendjemand – hat Barbaras Wagen berührt, er blickt hinüber, das Irgendetwas sitzt auf der Motorhaube … ein Marder?
E s ist überhaupt kein Problem, jemanden durch eine Tür hindurch zu erschießen. Das wissen sogar Polizisten, und manchmal tun sie es auch. Auch die alten morschen Bretter eines Scheunentors taugen nicht als Kugelfang. Schon gar nicht, wenn die Kugeln aus einer Waffe kommen vom Kaliber einer Pistole, wie sie Olga noch immer in der Hand hält. Aber nach dem Gehör schießen? Tut man das?
Olga jedenfalls tut das nicht. Es wäre nicht professionell gewesen. Vielleicht hätte sie eine Chance gehabt, als der Mann am Torflügel vorbeiging: Ein paar rasch gesetzte Schüsse, in dichter Folge, etwa auf Herzhöhe – doch, das hätte klappen können. Aber wen hätte sie dabei getroffen? Den grauen Mann? Gut möglich. Nicht unwahrscheinlich. Aber eben nicht sicher. Es hätte auch der andere sein können, und der war tabu; die Anweisung von heute Morgen hat da keinen Zweifel gelassen.
N ein, Marder sitzen nicht auf Motorhauben, sondern begeben sich schnurstracks darunter, zu den feinen wohlschmeckenden zarten Kabeln. Was auf der Motorhaube sitzt, wenn es dort vom Motor her noch immer ein wenig warm ist, das ist für gewöhnlich eine Katze, und als die Wolken wieder einmal am Mond vorbeiziehen, erkennt Berndorf auch richtig das Piratengesicht von Virginia, und sie maunzt, aber nicht, weil sie ihn erblickt hätte. Auch ist es kein Maunzen, sondern eher ein Gurren, das so ähnlich klingt wie »Rrrrith!« Mit einem Satz springt Virginia vom Wagen herunter und drückt sich an den einen Torflügel, der unten nicht ganz bündig schließt, weil das Erdreich sich im Lauf der Jahre doch ein wenig gesenkt hat.
Es ist nur ein kleiner Spalt, aber die Katze hat nun einmal beschlossen, dass sie in diesen Schuppen will, und schiebt sich unter dem Torflügel hindurch, bis man im Mondlicht nur noch das Hinterteil und den hoch gestreckten Schwanz sieht, und dann ist auch dieser verschwunden.
Berndorf muss ein wenig lächeln, dann nimmt er zwei von den Zaunlatten, klemmt die erste unter die Klinke der Tür zur alten Werkstatt, dann geht er um den Schuppen herum zur rückwärtigen Tür, holt die Taschenlampe heraus und betrachtet fast mit Respekt die Spuren des Maschinenöls, mit dem das Schloss gängig gemacht worden ist. Dann klemmt er auch hier die Klinke mit einer Zaunlatte fest.
D er Kerl, der am Tor stand und dann zur anderen Ecke des Schuppens ging, muss dort noch immer stehen. Er hält Wache, denkt Olga. Sind die Leute im Haus misstrauisch geworden? Hat die alte Frau aus Berlin womöglich angerufen? Es kommt nicht darauf an. An der Ecke von diesem Schuppen wartet jemand, und das bedeutet, dass er auf sie wartet. Mehr muss sie nicht wissen. Weiß oder ahnt dieser Kerl, dass sie sich bereits im Schuppen befindet, ein paar Schritte von ihm entfernt? Vermutlich nicht, sonst wäre er nicht einfach so an diesen Brettern vorbeigegangen. Oder er ist ein
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