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Schlangenkopf

Schlangenkopf

Titel: Schlangenkopf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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untersetzte, etwas kurzbeinige Frau steigt aus und läuft – als habe sie anderes gar nicht erwartet – dem Aufnahmeteam eines TV-Senders in die Kamera. Sie trägt ein Kostüm, das etwas zu gelb ist, und beginnt sofort und ohne Ansatz in das Mikrofon zu reden, das ihr vorgehalten wird.
    Die beiden Männer sehen sich kurz an.
    »Das wird schon noch«, sagt Vochazer schließlich. »Wem Gott ein Amt gibt …«
    »… dem gibt er auch den Verstand dazu«, vollendet Fausser den Satz. »Aber für das eine lässt er sich manchmal doch sehr viel mehr Zeit als für das andere, findest du nicht?«
    »Gottes Wege sind wunderbar«, antwortet Vochazer fromm. Sie passieren die Eingangskontrolle und gehen zu den Aufzügen, die sie in ihre Büros bringen sollen. »Aber manche Leute reden viel, das ist schon wahr, Du glaubst nicht, was da alles in Umlauf gesetzt wird …« Der Aufzug kommt, die Tür öffnet sich, und Vochazer lässt Fausser den Vortritt.
    »Ich nehme mal an«, sagt Fausser, als sich die Tür geschlossen hat, »du hast mir auch ein Beispiel für das, was so in Umlauf gesetzt wird?« Er fährt sich über die Stirn, die Luft im Aufzug ist stickig, plötzlich spürt er einen Schweißausbruch.
    »Wenn du partout darauf bestehst«, meint Vochazer, »es heißt, dein Wahlkreis wäre schon so gut wie vergeben, an eine …« – Er hebt die Hand, als habe er etwas abgewogen und für zu leicht befunden – »… an eine von euren jungen Quotenfrauen, tut mir leid, der Name ist mir entfallen …«
    »Ach das!«, antwortet Fausser. »Übrigens gibt es bei uns keine Quotenfrauen. Nur hoch qualifizierte Expertinnen. Migrationsforscherinnen. Fachfrauen für eine geschlechtsneutrale Sprache … Aber ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt noch eine Runde dranhängen soll.«
    Der Aufzug hält, Vochazer sieht an Fausser vorbei, hinaus auf den lichten Flur, vor dem sich die Aufzugtür geöffnet hat.
    »Mir tät’s leid«, sagt er. »Ich meine, wenn nicht …«
    »Mir nicht«, meint Fausser, hebt grüßend die Hand und wendet sich dem Korridor zu, der zu seinem Büro führt.
    E s ist still in der Änderungsschneiderei Aydin, und es wird nicht gearbeitet. Die Fenster sind geöffnet, aber der Geruch nach Bügeleisen und feucht gedämpftem Tuch liegt noch in der Luft. Berndorf ist nicht der einzige Besucher, dunkel gekleidete Männer stehen umher, blicklos huscht ein blasses Mädchen vorbei, ein Mädchen mit Kopftuch, ganz recht. Man begrüßt sich eher leise, überhaupt hört Berndorf kein Wehklagen, kein Geschrei, niemand rauft sich die Haare, was hatte er sich eigentlich vorgestellt?
    Kemal Aydin nickt ihm zu und kommt herüber. Er hat einen Umschlag in der Hand und legt ihn auf den Tresen, auf dem sonst ausgebreitet wird, was die Kunden geändert haben wollen. Es sind nicht viele Fotos, auf einem davon ist der kleine Murad zu sehen, elf Jahre alt und gerade nach Deutschland gekommen, mit dunklen Augen, aus denen man herauslesen kann, was immer man will: Was denkt, träumt, hofft ein Elfjähriger, der zum fremden Onkel ins fremde Land gebracht wird, weil der Vater verschwunden ist oder eingesperrt wurde oder umgebracht …?
    Spätere Fotos zeigen einen Jungen mit vollem Gesicht, der so aussieht, wie junge Leute in der Pubertät aussehen, albern und affig oder trotzig oder mit prahlerischer Geste, bald mit schwarzem flaumigem Bartansatz. Berndorf greift sich eines der Fotos, einen Schnappschuss, entstanden offenbar bei einem Familienfest, Murad blickt mit angestrengter Gleichgültigkeit in die Kamera, sein Gesicht ist nicht mehr ganz so rund, und statt des Flaums zieht sich ein am Rand sorgfältig ausrasierter Bartstreifen senkrecht übers Kinn. Er trägt ein adrettes schwarzes Hemd zum schwarzen Jackett, schwarze genestelte Strickkrawatte … »Das Foto ist ein Jahr alt, etwa ein Jahr«, erklärt Kemal Aydin, »es war am Ende vom Ramadan …«
    Berndorf will wissen, was Murad zuletzt getragen hat, und Kemal Aydin ruft nach Nezahat, dem Kopftuchmädchen. Murad war ihr Bruder, und als Berndorf sie aus der Nähe sieht, bemerkt er, dass sie nicht einfach blass ist. Sie ist totenblass.
    »Die schwarzen Jeans hatte er an«, sagt Nezahat, »und den schwarzen Lederblouson …«
    Ein neuer Besucher betritt die Schneiderei, zwei Henkelmänner tragend, offenbar bringt er Essen mit. Berndorf verstaut das Foto in der Mappe, die er mitgebracht hat, und holt dafür eine vorbereitete Erklärung des Inhalts heraus, dass er – Berndorf, Hans –

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