Schlangenkopf
bevollmächtigt sei, die Familie Aydin in allen den verstorbenen Murad Aydin betreffenden Angelegenheiten zu vertreten … Das hatten sie zwar schon in seinem Büro so besprochen, aber Aydin setzt sich erst einmal abseits an einen Arbeitstisch und muss eine Brille herausholen und das Schriftstück sorgfältig studieren, ehe er ebenso sorgfältig eine schöne geschwungene Unterschrift daruntersetzt. Berndorf nimmt es mit gebührendem Respekt entgegen, nickt Aydin zu und Nezahat und den anderen Trauergästen, soweit sie seinen Blick erwidern, und geht.
Kemal Aydin hat ihm ein Café genannt.
»Murad war oft dort. Aber Sie müssen wissen – es kann sein, dass die Leute dort nicht sehr freundlich sind …«
J a, er soll Sie gleich anrufen, wenn er kommt, ich richte es ihm aus«, sagt die Sekretärin Carmen Ruff und legt mit einem genervten Blick zur Decke den Hörer wieder auf.
»Da fängt die Woche ja gut an«, bemerkt die Wissenschaftliche Mitarbeiterin Carla Jankewitz und blättert weiter in der neuen Spiegel-Ausgabe. »Er war gestern also gar nicht mehr zu Hause.«
»Das geht so lange gut, wie es gut geht«, antwortet die Sekretärin und überprüft den Terminplan für die neue Woche.
»Aber nicht mehr lange«, sagt Carla Jankewitz. »Ich wundere mich, dass diese Solveig Lunden das überhaupt noch mitmacht.«
»Und ich wundere mich, dass ihm die Frau nicht davon läuft …«
Die Tür öffnet sich, Christian Fausser tritt ein, wünscht allseits einen guten Morgen und fragt – während er den Mantel auszieht und ihn in den Garderobenschrank hängt – was denn heute kaputt sei.
Die beiden Frauen sehen sich an, und die Sekretärin antwortet gleichmütig, nichts sei kaputt. Sowohl die Frage als auch die Antwort und der Blick der beiden Frauen gehören zum morgendlichen Ritual im Büro des MdB Christian Fausser.
»Ihre Frau hat angerufen«, fügt die Sekretärin hinzu. »Mehrmals. Sie möchten sie zurückrufen. Es sei dringend.«
»Danke, Carmen«, antwortet Fausser und geht in sein Büro. Carla Jankewitz folgt ihm und zieht die Tür hinter sich zu. Dann bleibt sie stehen, an den Türrahmen gelehnt und die Arme verschränkt. »Haben Sie sich gut erholt?«, fragt sie.
Fausser stellt sein Aktenköfferchen auf das Sideboard, zieht den Schreibtischstuhl vom Tisch zurück und setzt sich. Der Papierstapel, der vor mir liegt, ist gar nicht so hoch, denkt er. Warum flößt er mir einen solchen Widerwillen ein? Ganz oben liegt die Zeitung, die er schon durchgesehen hat, aufgeschlagen auf der Seite mit dem Bericht von der Tagung am Starnberger See, die Passage über Faussers Bemerkung mit einem roten Marker gekennzeichnet. Er stützt die Ellbogen auf dem Tisch auf und faltet die Hände und legt sein Kinn darauf, dann hebt er den Blick und betrachtet seine Assistentin: eine schlanke Frau, schwarz die kurz geschnittenen Haare, schwarz der lange Rock, schwarz der Rollkragenpullover. Nur die Lippen sind rot. Sehr rot. Und die Nase ist ein wenig schief. Ein wenig sehr schief.
»Das waren jetzt drei Unverschämtheiten auf einmal.«
»Ach ja?« Carla Jankewitz dreht ein wenig den Kopf und schaut elsternhaft.
Fausser hebt die Hand, Daumen, Zeige- und Mittelfinger hochgestreckt. »Erstens unterstellen Sie mir mal wieder, dass ich ausgebrannt bin, zweitens, dass ich zur Erholung am Starnberger See war, und dass mir dort – drittens – ein Ausraster unterlaufen sei. Nett.« Er wirft einen zweiten Blick auf den Papierstapel und zwingt sich ein Zähnefletschen ab, als betrachte ein alter gelangweilter Tiger einen sehr dürftigen und schon sehr abgenagten Knochen. »Was muss ich wissen?«
»Dieser Segeltörn«, sagt Carla bedächtig, als müsse sie die Mitteilung auskosten, »der ist nicht besonders gut angekommen.«
»Ich war nicht zum Segeln dort.«
Carla Jankewitz wirft einen genervten Blick zur Decke. »Ich rede auch nicht vom Segeln, sondern von Ihren Diskussionsbeiträgen dort. Oder diesem einen Beitrag.«
»Das hatten Sie mir bereits signalisiert. Und sonst?«
»Der Stuttgarter Kreisvorsitzende hätte Sie gerne bei der Kundgebung des Klinikpersonals dabei …«
»Bei dem Stuttgarter Kreisvorsitzenden, liebe Carla«, erwidert Fausser mit sanfter Stimme, »handelt es sich um genau jenen hochgeschätzten Genossen, der seit Monaten damit beschäftigt ist, meinen Wahlkreis einer strebsamen jungen Sozialpädagogin zuzuschanzen, Fachfrau für eine geschlechtsneutrale Sprache, liebe Parteimitgliederinnen und -mitglieder!
Weitere Kostenlose Bücher