Schlangenkopf
Ärmel aufkrempeln, um die Unterarme unters kalte Wasser zu halten, das sollte helfen, wogegen? Er schafft sich aus dem Sakko, das ist gar nicht so einfach, der rechte Arm hängt an ihm, als wäre er eingeschlafen.
Der Spiegel ist beschlagen, das ist ihm recht, er will sein Gesicht gar nicht sehen, nicht jetzt oder überhaupt nie. Er beugt sich über das Waschbecken, will nach den Armaturen greifen, doch die Armaturen kommen ihm entgegen, der Arm wischt das Sakko vom Marmortisch, seine Wange schrammt an der Marmorkante entlang, unversehens erfasst ihn eine ungeheure Leichtigkeit, er schwebt, wer war das noch, der von Pflicht geredet hat? Keine Pflicht nirgends, und nichts ist gut, was heißt das? Dass Nichts werde, das ist doch etwas. Das ist sogar gut …
Stimmen. Gesichter. Jemand beugt sich über ihn. Jemand spricht. Jemand zieht an ihm. Tätschelt das Gesicht.
»Können Sie mich hören?« Die Stimme ist drängend. Will ihn nicht in Ruhe lassen.
»Können Sie lächeln?«
Komische Frage. Dies ist Berlin, meine Damen und Herren. Keine Stadt zum Lächeln. Nur bei dummen Fragen. Also lächeln wir. Zufrieden?
»Können Sie die Hände heben? Beide Hände?«
Zu viel verlangt. Keine Pflichten mehr.
»Können Sie sprechen? Sagen Sie etwas. Sagen Sie: Ja, ich kann sprechen …«
Wozu? Füße trappeln. Eine Tür schlägt. Hände packen ihn und legen ihn auf eine Trage.
»Ce-Vau-A«, sagt die Stimme. »Insult.«
S chwarze Silhouetten – Dietriche in der einen, eine Keule in der anderen Hand – schleichen sich an nächtliche Wohlstandshäuser heran, öffnen scheinbar mühelos Fenster und Türen oder heben die Gitterroste vor den Kellerfenstern hoch. Freilich sind sie nur aus Papier und schmücken, garniert mit allerhand Auszügen aus der Polizeistatistik, die Wände eines Fachgeschäfts für Sicherheitstechnik, das Berndorf nach einigem Suchen glücklich in einem Hinterhof in der Nähe des Alexanderplatzes gefunden hat.
»Allerweltsware«, sagt der Mann mit dem schütteren blonden, nach hinten gekämmten Haar und lässt die vier Schlüssel, die Berndorf ihm gebracht hat, durch die Hand gleiten. »Der wird für die Haustür sein, der für die Wohnung – beide können Sie in jeder Klitsche nachmachen lassen. Aber da ist nichts dokumentiert, nirgends, erst recht nicht bei diesem Briefkastenschlüssel hier. Anders ist es damit.« Er hebt einen vierten Schlüssel hoch, dessen Bart nicht gezahnt ist, sondern der eine Lochung aufweist und auf dessen flachem runden Kopf ein Firmenlogo und eine Kennzahl eingestanzt sind. »AM 125 617«, liest er vor, »das ist mit Sicherheit kein Haus- oder Wohnungsschlüssel. Das ist ein Schlüssel, wie er zum Beispiel in Bädern für die Garderobenschränke ausgegeben wird. Oder in großen Büros, wo Sie individuell abschließbare Schreibtische oder Schränke brauchen. Wenn ich Ihnen eine Kopie davon ziehen soll, müssten Sie mir erst die Sicherungskarte für die Anlage vorlegen.«
Berndorf räuspert sich. »Will ich auch nicht. Aber wäre es wohl möglich, beim Hersteller anzurufen, die Kennziffer durchzugeben und zu fragen, für wen dieser Schlüssel gefertigt wurde?«
»Der Hersteller sitzt in Braunschweig.« Der blonde Mann legt den Kopf ein wenig schief. »Aber warum, meinen Sie, sollte der Ihnen Auskunft geben?«
»Vielleicht gibt er Ihnen Auskunft.« Berndorf macht eine Handbewegung, die den Schreibtisch, an dem sie sich gegenübersitzen, und den Ladenraum einbezieht. »Sie sind ja ein Geschäftspartner oder zumindest ein potenzieller … Für Ihre Unkosten …«
Der Mann auf der anderen Seite des Schreibtischs winkt ab. »Ich kann’s ja versuchen«, sagt er. »Aber warum wollen Sie das noch mal wissen?«
»Dieser Schlüsselbund ist bei einem Toten gefunden worden«, antwortet Berndorf und versucht, möglichst nah an der Wahrheit zu bleiben. »Bei jemand, der bei einem Unfall ums Leben kam. Wir müssen wissen, ob der Tote rechtmäßiger Eigentümer des Schlüssels war.«
»Wir? Sie sind aber nicht von der Polizei? Ihren Ausweis hab ich so verstanden, dass Sie ein Privater sind.«
»Wir, das bin ich und das sind die Angehörigen des Toten«, antwortet Berndorf. »Sie wollen wissen, wem sie die Schlüssel zurückgeben müssen. Notfalls genügt es uns zu wissen, wer den Schlüssel ausgegeben hat. Dann stecken wir ihn eben in einen Umschlag und schicken ihn dorthin zurück.«
Der blonde Mann überlegt, dann greift er zum Telefon, sucht eine dort gespeicherte Telefonnummer
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