Schlangenkopf
Plötzlich weiß er es. Es ist der eine, der immer freundlicher war als die anderen. »Meine Mutter ist für eine Weile weggefahren.«
Das Gesicht des Arztes sieht plötzlich bekümmert oder sorgenvoll aus. André weicht seinem Blick aus, der große Kerl nähert sich ihnen, gleich wird er seinen Mantel durchsuchen.
»Weggefahren? In eine andere Klinik?«
»Nein. Nicht in eine Klinik.« Der Kerl ist in der Mitte des Warteraums stehen geblieben. »In ein Heim.«
»In ein Heim? Was für ein Heim?«
»Ein Erholungsheim. Ja doch. Sie kommt auch bald zurück …« Wieder öffnet sich die Tür des Stationszimmers, eine Krankenschwester kommt heraus, mit einem Stapel Papieren auf dem Arm.
»Hören Sie Schwester«, sagt der Kerl, »ich warte hier seit drei Stunden!«
»Doch, ganz bald«, versichert André, »das hat sie gesagt! Aber jetzt muss ich gehen, meine Großmutter wartet, sie regt sich sonst auf …«
»Aber dein Verband«, wendet der Arzt ein, »der ist doch nicht in Ordnung …«
»Es geht schon«, sagt André und wendet sich ab und läuft aus dem Warteraum und weiter ins Treppenhaus und die Treppe hinunter. Schwer spürt er den Geldbeutel in der Seitentasche des Anoraks.
M iguel hat sich ein Glas Mineralwasser eingeschenkt, trinkt einen kleinen Schluck, blickt vor sich hin und hört den Akkorden des Jazz-Pianisten zu, dessen CD er aufgelegt hat, den Ton so leise gestellt, dass sich die beiden nadelgestreiften Business Men in der mahagonidunklen Ecke links hinten nicht gestört fühlen. Er bemerkt es auch so, wenn er Nachschub bringen muss, wasserhellen Wodka für den einen, Wasser für den anderen, aber in den gleichen Gläsern … Sonst sind keine Gäste da, in dieser einen halben Nachmittagsstunde, die für die meisten Gäste zu spät ist für einen Espresso und zu früh für einen Drink.
Ein Mann betritt die Bar des Brandenburg Residence Hotelsund strebt dem Tresen zu, mit einem Blick sieht Miguel, dass dies weder ein Hotelgast ist noch jemand, der mit einem solchen üblicherweise zu tun haben würde. Das liegt nicht so sehr an dem dunklen Lodenmantel und auch nicht an dem breitkrempigen schwarzen Hut, eher liegt es an der Achtsamkeit, mit der dieser Mann sich umsieht. Miguel tippt darauf, dass der neue Gast sich ein Gin-Tonic bestellen wird, das ist ein Getränk, das Gäste gerne bestellen, wenn sie eigentlich nicht wissen, was sie in einer Bar verloren haben.
Der Mann hat den Mantel an den Garderobenständer gehängt und den Hut dazu, nun hievt er sich auf den Barhocker und bittet um einen Espresso und einen Kognak. Miguel nickt und macht sich an der Espresso-Maschine zu schaffen. Mit einem hörbaren, aber doch dezenten Sirren zertrümmert das Mahlwerk die Kaffeebohnen, denn dies ist eine Bar, in der der Espresso mit frisch gemahlenen Bohnen aufgebrüht wird.
Ein Schnüffler, denkt er, warum hab ich das nicht gleich gesehen? Womöglich einer, der hinter den beiden Russen her ist? Komisch wäre das. Als ob zwei Großgangster über einen halben Zentner Plutonium verhandelten, und das Land Berlin schickte einen Pflastertreter dazu, die ausstehenden Müllgebühren einzutreiben.
So ungefähr.
Er wählt einen Kognak aus, um den es nicht allzu schade ist, falls er nur dazu dienen sollte, dem Espresso nachzuspülen.
»Keine Milch, keinen Zucker«, sagt der Gast. Miguel stellt den Schwenker und das Espresso-Tässchen auf den Tresen, dazu ein kleines verpacktes Stück Mürbegepäck aus der hauseigenen Konfiserie.
»Es ist sehr ruhig bei Ihnen«, meint der Gast. »Der Musik tut das gut.«
»Bars sind um diese Zeit selten voll«, antwortet Miguel. »Das ändert sich noch.« Er lächelt knapp. »Ich bin da ganz zuversichtlich.«
»Dann haben Sie noch einen langen Abend vor sich.«
»Das ist mein Job.« Kurzes Lächeln. »Und meinen Job tu ich gern.«
Der Gast greift in die Brusttasche seines Sakkos – ein Tweed-Sakko, vor einiger Zeit mit Lederflicken an den Ellbogen aufgebessert, wie Miguel registriert –, holt ein Foto heraus und schiebt es über den Tresen. Der Höflichkeit halber wirft Miguel einen Blick darauf, es ist aber nichts weiter zu sehen als die Rückenansicht einer Lederjacke mit weißen Besätzen. Der Barkeeper hebt leicht die Augenbrauen und zieht vor, nichts zu sagen.
»Da gibt es eine merkwürdige Geschichte über einen, der hat auch einen langen Abend gehabt, denk ich mal, und diese Jacke da« – der Gast zeigt auf das Foto – »die muss ihm gehören. Übrigens auch …
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