Schlangenkopf
gehen, überlegt Berndorf, wie das wohl gewesen sein mag, als Nezahat hierherkam … Zusammen mit ihrem Bruder? Als das Anhängsel, das leider auch noch untergebracht werden muss? Er hat keine Ahnung und mag nicht fragen, auch nicht nach den Dingen sonst, die er über den Bruder wissen müsste. Denn dieses Mädchen da, das ihm schweigend folgt und in der U-Bahn-Station schweigend neben ihm wartet, nein: nicht neben ihm, sondern in einem erkennbaren Abstand, immer schweigend und in sich gekehrt … diese Antigone störst du nicht!
Die U-Bahn kommt, sie steigen ein, und Berndorf schilt sich einen Hohlkopf, weil er sich das Mädchen Nezahat als eine Antigone gedeutet hat.
Was für ein Klischee!
Die Bahn fährt an, und er setzt sich auf eine der Bänke an der Längsseite des Waggons: damit sie sich ebenfalls setzen kann, und dies nicht direkt neben ihm, sondern zwei schickliche Plätze weiter. Ach, denkt er, sind wir wieder zartfühlend heute!
J örg Matthaus, ein schlanker, trotz der weißen Haare noch immer jugendlich anmutender Mann mit einem ausgeprägten, von einer vorspringenden Nase beherrschten Profil, ist von seinem Tisch aufgestanden und gibt Fausser ein Handzeichen, damit ihn dieser im vollbesetzten Speisesaal überhaupt findet. Fausser nickt und geht an den anderen Tischen vorbei auf ihn zu, sorgsam allzu viele Blickkontakte links oder rechts vermeidend. Als er an Matthaus’ Tisch angekommen ist, tauschen die beiden Männer keinen Händedruck, sondern klatschen sich mit der rechten Hand ab – das halten sie so, seit Jörg Matthaus sich vor der Wahl 1992 in das Unterstützerteam für den Stuttgarter Direktkandidaten Fausser eingereiht hatte, sehr zum Missfallen von Matthaus’ Bankerkollegen.
»Warum haben wir uns eigentlich hier verabredet?«, fragt Fausser und nimmt Platz. »Ich hasse diese Bonzenmensa.«
Matthaus hebt entschuldigend beide Hände. »Ich hab’s vorgeschlagen, weil … die Küche ist ja wirklich nicht schlecht. Und von dir kam kein Widerspruch.«
Fausser zuckt mit den Achseln und blickt zum Nebentisch, wo ein riesenhafter aufgeschwemmter Mensch mit hängenden Hamsterbacken eine Minestrone löffelt und den Blick so argwöhnisch zurückgibt, wie dies alle tun, die sich beim Essen beobachtet fühlen. Ein Kellner bringt die Speisekarten, und Fausser bestellt sich einen Tomatensaft als Aperitif.
Matthaus fragt, wie es zu Hause gehe, und Fausser – die Speisekarte studierend – murmelt ein: »Danke, ganz gut, glaube ich.«
»Und Vera?«
»Auch.« Fausser überlegt, ob er sich einen Loup de mer bestellen soll, dann fällt ihm ein, dass seine Antwort etwas zu kurz ausgefallen ist. »Sie arbeitet jetzt beim Bildungswerk der Böckler-Stiftung. Und Tabea wird im Herbst wohl aufs Gymnasium kommen.« Nein, montags keinen Fisch, da gibt es keinen fangfrischen.
Matthaus nickt, die auffallend grünen Augen noch immer auf Fausser gerichtet. »Sag ihr Grüße von mir, wenn du es für richtig hältst.«
Fausser erwidert seinen Blick. »Werde ich tun.« Noch während er es sagt, geht ihm durch den Kopf, dass er das ganz bestimmt nicht tun wird und dass Matthaus das auch genau weiß. Weiter ist gerade keine Konversation nötig, der eine Kellner bringt den Tomatensaft, ein zweiter nimmt die Bestellungen auf, Fausser ordert ein Steak und etwas Gemüse dazu, Matthaus begnügt sich mit einem Risotto.
»Ich hab gelesen, Du hast dich mit EuroStrat angelegt«, nimmt Matthaus das Gespräch wieder auf. »Das werden die nicht nett finden. Sie sind das nicht gewohnt.«
»Ich hoffe sehr, dass sie es nicht nett finden«, antwortet Fausser und überlegt, welche Fortsetzung diese Einleitung wohl finden wird.
»Und was hast du sonst auf der Agenda?«
»Du irrst«, sagt Fausser und raspelt sich mit der Mühle etwas Pfeffer in seinen Tomatensaft. »Unsereins hat keine Agenda. Nicht mehr. Wir sind keine Handelnden, wir reagieren nur noch, bestenfalls. Eigentlich nicken wir nur noch ab. Das Spiel machen andere.« Mit einer Kopfbewegung weist er zum Nebentisch, wo dem Mann mit den Hängebacken gerade ein gehäufter Teller Pasta serviert wird. Matthaus nickt, denn wie jeder, der sich ein wenig auskennt, kennt auch er den Mann von nebenan, den Chef einer PR-Agentur, die so erfolgreich ist, dass nur die Erfolgreichen wissen, dass es sie überhaupt gibt.
»Wenn du es sagst … Um ehrlich zu sein – mir klingt das zu resigniert.«
»Du sprichst da von Ehrlichkeit? Nichts dagegen«, antwortet Fausser. »Warum also
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