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Schlangenkopf

Schlangenkopf

Titel: Schlangenkopf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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mal wieder am Kippen, er spürt es schon eine ganze Weile, und in Mitte – da kannst du einfach keinen Porsche herumstehen lassen, wie schnell zieht sich da ein Kratzer über die Karosserie!
    Er setzt sich und nimmt sich den Börsenteil der FAZ vor, auch wenn der Komfort, den die S-Bahn für den lesenden Geschäftsmann bietet, ein sehr bescheidener ist. Die Kurse haben sich wieder erholt, auf breiter Front, also auch bei den Autowerten, das ist gegen jede ökonomische und ökologische Vernunft, kann es denn die Möglichkeit sein? Für ihn ist das keine gute Nachricht, Verkaufsoptionen für Daimler und BMW sind seine letzte Karte gewesen, eine von der Vernunft diktierte letzte Karte – und jetzt? Es wird eng werden. Sehr eng.
    Er lockert die karmesinrote Seidenkrawatte und öffnet den Kragenknopf. Etwas würde ihm einfallen, weil ihm etwas einfallen muss. Er wird die Treuesten der Treuen anrufen, die Witwen und Waisen, und Frohbotschaften verkünden, enormer Kursgewinn! Optionen jetzt realisieren! Der ganze große Reibach zum Greifen nah! Und wenn die Sparbücher leer sind, so müssen die Tanten und Onkel und Basen und Vettern doch noch etwas auf der hohen Kante haben, ganz bestimmt ist das so, da sollen die Witwen und Waisen doch auch einmal etwas tun für ihr Geld.
    Er wendet sich wieder der Zeitung zu. Die Landesbank Süd eröffnet sich neue Horizonte, neue operationale Strategien, was ist das nun wieder?
    … mit dem beabsichtigten Erwerb der kleinen, aber renommierten und ertragsstarken Privatbank Oheymer & Jaumann würden sich für die Landesbank Süd, die bisher nicht unbedingt als Global Player in Erscheinung getreten ist, neue Geschäftsfelder im gesamten Mittelmeerraum eröffnen – eine Entwicklung, die nicht nur von den beteiligten Landesregierungen in München und Stuttgart, sondern auch in Berlin ausdrücklich begrüßt würde. Für Matthaus, den jungen und energischen Aufsichtsratsvorsitzenden von Oheymer & Jaumann, stellt der Verkauf an die Landesbank den logischen Abschluss einer erfolgreichen Expansionspolitik dar, die auf lange Sicht das personelle und planerische Potential einer Privatbank überfordern müsste …
    Ein Foto ist beigefügt: Jörg Matthaus. Der Bilch erinnert sich an ihn, und so zieht ein kleines, bitteres, böses Lächeln über sein Gesicht. Sie kennen sich – er und dieser junge und energische Jörg Matthaus, das heißt, dieser wird sich an den Bilch nicht erinnern. Immerhin haben sie einmal nebeneinander gesessen, in der Economy Class auf dem Rückflug von London, frühmorgens, und er – der Bilch – war kurz eingeschlummert, und als er aufwachte, hatte er in dieses spöttische arrogante Gesicht geblickt, und noch immer hat er im Ohr, wie dieser Karrierejüngling damals zu ihm gesagt hat: »Na mein Lieber, da haben Sie aber den halben Schwarzwald abgesägt …«
    D as Leintuch, das quer über das Portal der Kirchenruine gespannt ist, hängt durch. So kann man die Inschrift – »Denk mal Bürger! Dieses Bauwerk gehört dem Volk!« – nur mit Mühe entziffern. Eine Gruppe von vielleicht fünfzig Demonstranten hat sich vor dem Portal versammelt, in der Mehrzahl jüngere Leute aus der alternativen Szene, aber auch einige ältere darunter, und letztere – wie Gregor Örtlein fast belustigt registriert – zumeist in den DDR-Gedächtniswindjacken, die irgendwie nicht untergehen wollen.
    Aber es scheint die Sonne, und das bedeutet, dass er das durchhängende Transparent nicht richtig fotografieren kann. Er wendet sich an den Sprecher der Demonstranten, der gerade das Megaphon abgesetzt hat, weil ihm von den Passanten ohnehin keiner zuhören mochte, und dirigiert ihn vor ein Schild, auf dem in nachgeahmter Fraktur steht: »Stadtgeschichte gehört allen – Hände weg vom Grauen Kloster!«
    Der Sprecher der Demonstranten ist ein Detlev Majewski, ein Bezirksverordneter von den ganz Linken, früher wäre das ein absoluter Ausschließungsgrund für einen Bericht gewesen. Inzwischen sieht das die Verlagsleitung nicht mehr ganz so eng. Majewski ist ein Mann mit üppigem dunklen Haupthaar, eine Strähne fällt schräg über die Stirn, dazu trägt er Schnauz- und Kinnbart, wobei letzterer unmittelbar unter der dicklichen Unterlippe sorgsam ausrasiert ist. Während er fotografiert wird, stemmt er in der einen Hand das Megaphon, als sei es der Olifant, das Signalhorn des Helden Roland, und weist mit der anderen auf das Plakat. Das wird ein sehr albernes Bild, denkt Örtlein, aber er nimmt

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