Schlangenkopf
neun, er muss sich beeilen, dass er den Bilch vor seinem Büro abfängt, von früher weiß er, dass es der Bilch nicht mag, wenn er oder die Elke ins Büro kommen. Rasch legt er den Verband an, die eine Seite ist etwas weniger schmutzig als die andere, und steckt ihn mit einer Sicherheitsnadel fest. Kurz horcht er an der Tür, ob jemand im Treppenhaus ist, dann verlässt er die Wohnung und steigt mit schnellen leisen Schritten – die immer am Rand der Stufen bleiben, denn in der Mitte knarrt es am stärksten – die Treppe hinunter, vorbei an der Wohnung im zweiten Stock, wo die alte Frau wohnt, die ihm immer auflauert und abfängt und fragt, ob er eigentlich in die Schule geht und wo die Elke ist.
Diesmal kommt er problemlos vorbei, und draußen auf der Straße fällt ihn unversehens Fröhlichkeit an, der Tag hat gut angefangen, der Bilch wird ihm helfen, und deshalb wird er am Abend nicht zum Hausverwalter müssen, er ist eben der Junge, der den Weg aus dem Tunnel findet.
Ein Mann kommt ihm entgegen und bleibt stehen. »Sag mal, Junge, was ist das für ein Verband, den du da hast?«
Ein Schritt zur Seite und vorbei.
»He, Junge!«
Achselzucken und weiter!
Vor ihm ist die U-Bahn-Station mit dem Kiosk neben der Treppe, und vor dem Kiosk sind Plakatständer mit dem Lügenblatt aufgestellt, aber André achtet nicht darauf. Auf der anderen Straßenseite, vor dem Schaufenster, hinter dem der Bilch sein Büro hat, stehen zwei graue Autos und ein grauer Lieferwagen, Passanten sind stehen geblieben und schauen zu, wie Männer Kartons heraustragen und einen ganzen Computer.
Zieht der Bilch um? Dann stünde da ein Möbelwagen. Kein grauer Lieferwagen. André überlegt, ob er auf die andere Straßenseite gehen soll und näher heran, aber plötzlich weiß er, dass das keine gute Idee ist. Er geht ein paar Schritte zurück, unschlüssig, was er nun tun soll. Aus dem Treppenaufgang der U-Bahn-Station kommen Passanten und gehen nach links und gehen nach rechts, ein dicker Mann im hellen Sommermantel taucht auf und bleibt stehen, wie vom Tageslicht betäubt, es ist der Bilch, und André weiß, wenn er ihn überhaupt ansprechen kann, muss er es jetzt tun, auch wenn das vielleicht der denkbar dümmste Augenblick ist. Er macht einen Schritt auf den Bilch zu, da dreht sich dieser um und kommt ihm entgegen, mit einem ganz merkwürdigen Ausdruck im Gesicht, so blass hat er ihn noch nie gesehen.
»Hallo!«, sagt André, aber der Bilch läuft an ihm vorbei, einfach so, und biegt um die Ecke und geht rasch über die Straße, als würde er am liebsten rennen, und André folgt ihm und holt ihn in dem kleinen Park ein, den es vor dieser Schule gibt, in der man für den Unterricht bezahlen muss.
»Bilch, kann ich mit dir sprechen, nur ganz kurz, so warte doch!« Der Bilch läuft ein paar Schritte weiter, dann bleibt er stehen und legt für einen kurzen Augenblick den Kopf in den Nacken, als wollte er den Himmel um etwas bitten.
»Ach, du bist das!« Der Bilch hat den Kopf wieder gesenkt und sieht André an, als sähe er ihn überhaupt erst jetzt. »Na schön. Was willst du?« Er sieht sich um und geht zu einer Parkbank, setzt sich und weist auf den Platz neben sich. Gehorsam folgt André und weiß plötzlich nicht mehr, was er sagen soll.
»Also, ich hab grad ziemlich Stress«, sagt der Bilch. »Vielleicht hast du es ja gesehen. Aber egal. Vielleicht bleib ich ganz einfach hier sitzen. Was kann ich für dich tun? Und wie geht es der Elke?«
»Gut«, antwortet André. »Sie ist in der Erholung.«
»War sie krank? Weißt du, ich hab nichts mehr gehört, seit sie mit mir Schluss gemacht hat. Das war sie, nur dass du es weißt.«
»Der Arzt hat sie dahin geschickt«, antwortet André diplomatisch, denn er weicht damit allem anderen aus. »Aber es gibt jetzt ein Problem mit der Miete, also, es fehlt halt noch was, und da …«
»Und da hast du gedacht, fragen wir mal den guten alten Bilch!« Wieder legt der Bilch den Kopf in den Nacken und stößt dazu ein Geräusch aus, das man für ein Lachen halten könnte. »Ich würde dir sehr gerne helfen, glaub mir das, ich hab dich immer gut leiden können, und ich würde auch der Elke gerne unter die Arme greifen, noch immer, in jeder Beziehung … aber leider! Leider bin ich pleite, und nicht einfach bloß pleite, auch wenn man meint, man könnte das Wort pleite nicht steigern. Ich hab nämlich nicht nur kein Geld mehr, sondern noch sehr viel weniger als gar keines, das ist so blöd, wie es
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