Schlangenkopf
ewig missmutige Vera, die gestiefelte Solveig hält dagegen, auch Carla ist da, die Lippen zu rot und die Nase zu schief, irgendwo im Unglückszimmer kauert die Enkelin, warum auch nicht! So lernt sie früh schon die rechte Art, sich ein saftiges Stück Unglück aus dem Kadaver zu hacken …
Dann plötzlich, glasharfenzart, eine Kinderstimme. »Guck doch mal, der komische Fernseher!«
Ein ums andere Mal flackert auf dem Monitor am Krankenbett ein »Nein« auf, als würde der Bildschirm von einer Platte gesteuert, die einen Sprung hat.
G anz unter uns«, sagt die Neurologin und Chefärztin Dr. med. Marielouise Capotta und blickt von der Krankenakte hoch, »es stellt keinen Verstoß gegen die ärztliche Schweigepflicht dar, wenn ich Ihnen versichere, dass in einem solchen Fall von Aphasie – und dann noch in Verbindung mit den anderen Symptomen! – nur eine äußerst langwierige und höchstwahrscheinlich nur partielle Rehabilitierung greifen kann, wenn überhaupt! Die Mitarbeit an einem wissenschaftlichen Projekt – wie Sie es angedeutet haben – scheint mir doch sehr erschwert, jedenfalls in der nächsten Zeit, langfristig aber nicht ganz und gar unmöglich. Therapeutisch wäre es vielleicht sogar wünschenswert.«
»Er kann also nicht sprechen«, fasst Barbara Stein zusammen, »aber kann er verstehen, was man ihm sagt? Können Sie mit ihm kommunizieren?« Dunkel erinnert sie sich an ein Buch oder einen Film über einen französischen Journalisten, der nur noch mit dem Lidschlag ein »Ja« oder »Nein« signalisieren konnte.
»Er scheint zu verstehen«, kommt die Antwort, »ist sich wohl auch über seine Lage im Klaren, und da er die linke Hand bewegen kann, wird es ihm bald auch möglich sein, sich irgendwie mitzuteilen, zum Beispiel mit Hilfe einer Tastatur ähnlich der eines Blackberry, da habe ich keinen Zweifel.« Dr. Capotta wirft Barbara Stein einen leicht ironischen Blick zu. »Wir müssen also nicht auf den Lidschlag zurückgreifen. Bis er sich an eine solche Tastatur gewöhnt hat, sollten wir uns allerdings mit einem System von Ja und Nein begnügen.«
Barbara Stein fragt, ob sie den Patienten sehen könne. »Nur kurz …«
Ein Anflug von Irritation oder Verlegenheit legt sich über das Gesicht von Dr. Capotta. »Ich sollte Ihnen sagen, dass momentan die Ehefrau und die Tochter mit dem Enkelkind bei ihm sind. Ich habe das schon richtig verstanden – Ihre Beziehung zu dem Patienten ist ausschließlich beruflich begründet, nicht privat?«
»Da haben Sie ganz richtig verstanden«, antwortet Barbara Stein und setzt ein Lächeln auf, das jeden Verdacht zerstreut, sie könnte die Frage übel nehmen. »Außerdem wäre es mir sehr lieb, seine Frau kennenzulernen …«
A m Ende der Station weitet sich der Korridor und lässt Platz für einen Warteraum, von dem aus man sogar Sicht nach draußen hat. Auch gibt es hier einen Kaffeeautomaten, der funktioniert. Weil Carla Jankewitz keine Lust hatte, sich länger mit der Familie Fausser samt der Geliebten um die Plätze am Krankenbett zu streiten, hat sie sich hierher zurückgezogen. Ohne große Begeisterung registriert sie, dass diese Barbara Stein sich ihr angeschlossen hat, diese Frau, die angeblich gemeinsam mit Fausser ein Buch machen will – ein Buch, gemeinsam mit einem Autor, dem die Worte abhandengekommen sind, was soll das nur werden!
»Das ist ja nun auch für Sie keine einfache Situation«, knüpft Barbara Stein ein Gespräch an, während sie sich mit ihrem Becher Kaffee neben die Wissenschaftliche Mitarbeiterin Jankewitz setzt. »Sie werden jetzt doch viele Entscheidungen für ihn zu treffen haben, Termine absagen müssen …« Unsinn, denkt sie, im politischen Räderwerk dieser Republik wird so gut wie jeder mühelos durch die Lücke ersetzt, die er hinterlässt.
»Im Augenblick ist nicht einmal so viel zu tun«, antwortet die Jankewitz und geht bereitwillig auf das Gespräch ein. »Die Termine habe ich alle abgesagt, im Wesentlichen bleibt jetzt noch die Korrespondenz, und da kann ich mit den üblichen Floskeln antworten.« Sie breitet die Arme aus, mit den leeren Händen nach oben.
Aus der Antwort hört Barbara Stein einen Unterton von Sarkasmus heraus, aber das mag auch eine Unterstellung sein.
»Sie kennen ihn schon länger?«, setzt nun die Jankewitz von sich aus das Gespräch fort. »Ich habe gelesen, dass Sie auf dieser Tagung am Starnberger See mit ihm diskutiert hätten.«
»Ich habe ihn erst dort kennen gelernt«, kommt die
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