Schlangenkopf
den Bereich an der Pforte überblicken kann, überall sind Leute, an der Anmeldung stehen ein paar Männer beieinander und reden, du musst einfach weitergehen, los, warum tust du es nicht? Er steckt die verbundene Hand in den Anorak und schafft zwei oder drei Schritte ins Foyer hinein, aber dann geht es nicht mehr, und er tut nun doch, was er auf keinen Fall tun darf – er bleibt stehen. Gleich werden die ersten Leute auf ihn aufmerksam werden, aber was soll er machen? Er hat gesehen, worüber die Männer an der Pforte reden: über das Lügenblatt und über das Phantom mit der verbundenen Hand, einer hebt die zusammengefaltete Zeitung hoch und deutet auf das Bild.
André fällt ein, dass es rechts zu den Toiletten geht, aber er zwingt sich, nicht zu rennen. Erst das Klo für die Behinderten, dann für die Frauen, endlich für die Männer. Als er die Tür öffnen will, kommt ihm ein dicker Mann entgegen. André – die verbundene Hand noch immer im Anorak, das Notebook unterm linken Arm – bringt es fertig, artig zurückzutreten und ihn vorbeizulassen.
Endlich kann er hinein und sich in eine Kabine flüchten und die Tür verriegeln.
Was jetzt?
Er löst die Sicherheitsnadel vom Verband und rollt ihn auf. Dann knüllt er ihn zusammen und will ihn schon ins Klo werfen, aber im letzten Augenblick fällt ihm ein, dass sich der Verband vermutlich nicht hinunterspülen lässt, sondern nur den Abfluss verstopfen würde. Er überlegt, dann löst er die Abdeckung vom Spülkasten und wirft den Verband dort hinein. Überhaupt ist das eine gute Idee, findet er und sieht rasch die Brieftasche und den Geldbeutel durch, die er aus der Schublade genommen hat. Es sind immerhin drei Hundert-Euro-Scheine und ein paar Zwanziger darin. Es hat jetzt keinen Sinn zu hetzen, also nimmt er auch das Münzgeld an sich, bevor er Brieftasche und Portemonnaie nicht in den Spülkasten wirft, sondern behutsam darin versinken lässt, denn jemand hat das Abteil nebenan bezogen.
Was macht er mit dem Notebook? Wenn er es senkrecht hineinstellt, wäre es dort gut versteckt, aber wäre das nicht schade?
Der Mann im Abteil nebenan muss Durchfall haben, das Gepfluder hört sich ganz grauenvoll an, gleich wird es bestialisch stinken. André drückt die Abdeckung wieder auf den Spülkasten, klemmt das Notebook unter den Arm und verlässt die Toilette. Als er die Tür hinter sich schließt, fällt ihm der kleine, in schwarzes Leder gebundene Terminkalender ein, den er in die Brusttasche gesteckt hat. Warum hat er den überhaupt mitgenommen? Geld wird da keins drin sein.
Wohin jetzt? An der Pforte vorbei, wo immer noch die Männer stehen und über das Phantom diskutieren? Er könnte den anderen Ausgang nehmen, aber dann muss er durch die Station zurück, das ist fast noch gefährlicher. Pforte? Station? Er beschließt, die Schritte bis ins Foyer zu zählen: Kommt eine gerade Zahl heraus, wird er den Weg zur Pforte gehen, ist die Zahl ungerade, nimmt er die Treppe zur Station … Er geht und zählt, dann weiß er nicht, hat er jetzt schon 13 oder 14 Schritte? Und schon ist er im Foyer, an der Pforte stehen keine Männer mehr, also dort vorbei! Im letzten Augenblick sieht er, dass sie sich nur nach draußen verzogen haben und jetzt vor dem Eingang Spalier stehen und rauchen.
Aber jetzt kann er nicht mehr zurück. Er geht an den Männern vorbei, und keiner achtet auf ihn.
C hristian, hörst du mich?« Ein Gesicht hat sich über ihn gebeugt, Brillengläser, plötzlich ganz nah. Ganz nah der Atem. Was ist das überhaupt für eine Frage? Warum fragt sie nicht, willst du mich hören?
»Lass ihn, Mutter.« Veras Stimme. Danke, Tochter. »Es wird nicht besser, wenn du ihn bedrängst.«
Wieder öffnet sich eine Tür. Er sieht einen Schatten: schwarz, schlank, gestiefelt. Das Klacken von Solveigs Absätzen.
»Entschuldigen Sie, aber Sie müssen sich in der Tür geirrt haben.«
Nein. Brigitte ist es, die sich irrt.
»Keineswegs.« Solveig hat ein Recht. Ein Recht zum Besuch. Ein Recht zu wissen. Zur Anteilnahme. Das Recht lässt sie sich nicht nehmen, auch sie hat Anspruch auf sein Elend und seine Wortlosigkeit. Sie alle lassen sich ihr Recht nicht nehmen, ihren Anteil an der gelähmten stummen Beute, die sich – endlich! – nicht mehr wehren kann. Sie schlagen nicht mit den Flügeln, sie hacken sich nicht mit den Schnäbeln, oh nein! Sie sagen sich, zuckersüß, tückische kleine Worte, Brigitte mit ihrem Cannstatter Schwäbisch, im Hintergrund Vera, die
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