Schlangenlinien
er wirkte ziemlich erwachsen. Trug immer weiße T-Shirts und Blue Jeans.«
Sie nickte. »Er war kein schlechter Junge, nur völlig außer Rand und Band. Er war sehr intelligent und redegewandt – das genaue Gegenteil von Alan Slater, der praktisch nur Kraftausdrücke auf Lager hatte. Ich hatte den Jungen gern, aber es war nicht leicht, sein Vertrauen zu gewinnen.« Ein wehmütiger Ausdruck flog über ihr Gesicht. »Vor ungefähr sechs Jahren las ich einmal in der Zeitung, dass ein Michael Percy wegen bewaffneten Raubüberfalls zu elf Jahren Gefängnis verurteilt worden war. Das Alter stimmte, aber der Mann auf dem Foto hatte keine Ähnlichkeit mit dem Jungen, den ich in Erinnerung hatte.«
Ich brachte es nicht über mich, ihre Illusionen zu zerstören. »Wohnt Sharon Percy noch immer in Nummer achtundzwanzig?«
»Vermutlich. Als wir 1992 weggingen, war sie auf jeden Fall noch da.« Sie nahm mir das Album aus den Händen und blätterte darin, bis sie auf das Foto eines grauhaarigen Mannes mit einem spitzen, von Falten durchzogenen Gesicht stieß. »Geoffrey Spalding«, sagte sie. »Verheiratet mit einer Frau namens Vivienne, die 1982 an Brustkrebs starb. Die arme Seele – sie hat lange mit der Krankheit gekämpft – fast fünf Jahre insgesamt. Die Aufnahme habe ich bei ihrer Beerdigung gemacht. Die beiden waren Sharons Nachbarn, und während seine Frau im Sterben lag, war Geoffrey fast ständig drüben bei Sharon. Es war ein Skandal. Ungefähr sechs Monate nach Viviennes Tod ist er dann ganz zu Sharon gezogen.« Sie seufzte wieder. »Für die Kinder war das natürlich furchtbar. Er hatte zwei halbwüchsige Töchter. Sie haben so getan, als existierte Sharon gar nicht.«
»Sind sie auch bei ihr eingezogen?«
»Nein. Sie blieben in ihrem alten Haus und versorgten sich selbst. Eine traurige Geschichte war das. Sie hatten praktisch keinen Kontakt mehr zu ihrem Vater. Ich vermute, sie gaben ihm die Schuld am Tod ihrer Mutter.«
»Ja, wir schlagen alle zurück, wenn man uns verletzt«, meinte ich in Gedanken an Jock und seine Eltern. »Das liegt wohl in der Natur des Menschen.«
»Die beiden Mädchen waren sehr still – zu still, fand ich immer. Ich kann mich nicht erinnern, sie je lachen gesehen zu haben. Sie mussten sich um ihre kranke Mutter kümmern, als sie noch viel zu jung dazu waren. Dadurch hatten sie nie Gelegenheit, Freundschaft mit Gleichaltrigen zu schließen.«
»Erinnern Sie sich an die Namen der beiden?«
»Puh, das ist eine gute Frage.« Sie überlegte einen Moment, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, tut mir Leid. Sie waren hübsche Mädchen, blondes Haar und blaue Augen. Mich haben sie immer an Barbiepuppen erinnert.«
»Wie alt waren sie, als ihre Mutter starb?«
»Die Ältere war, glaube ich, fünfzehn, die Jüngere dreizehn.«
Ich rechnete im Stillen. »Dann wären sie also zur Zeit von Annies Tod elf und neun gewesen.«
»In etwa.«
»Sie hießen Rosie und Bridget«, sagte ich. »Sie gingen jeden Morgen Hand in Hand zur Schule. Ihre Uniformen waren tadellos gebügelt, und sie sahen immer aus wie zwei perfekte kleine Unschuldslämmer.«
»Stimmt«, sagte Wendy. »Sie haben wirklich ein hervorragendes Gedächtnis.«
So gut nun auch wieder nicht, dachte ich. Vor Annies Tod waren die beiden Mädchen und ich Freundinnen gewesen. Wir pflegten einander jeden Morgen lächelnd zu grüßen, ich auf dem Weg in die eine Schule, sie auf dem Weg in eine andere. Aber in den Monaten nach Annies Tod war aus mir unerfindlichen Gründen alles anders geworden, kein Lächeln mehr, kein freundlicher Blick. Und eines Tages schnitt jemand Bridget die langen blonden Zöpfe ab und schob sie uns in den Briefkasten. Damals wusste ich weder ihren Nachnamen, noch in welchem Haus sie lebten. Ich sah nur, dass Rosie immer blasser und dünner wurde dass und die neunjährige Bridget plötzlich kurze Haare trug. Aber ich hatte keine Ahnung, warum die Zöpfe mir geschickt wurden und was es zu bedeuten hatte.
»Ich wusste nicht, dass ihre Mutter krank war«, sagte ich bekümmert. »Aber ich dachte immer, was für eine nette Frau sie sein müsse, weil die beiden im Gegensatz zu manchen anderen so gut erzogen waren.«
Neuerliches Seufzen. »Sie waren ganz verloren nach ihrem Tod. Ich wollte ihnen helfen, aber Geoffrey ging fürchterlich auf mich los und sagte, ich solle mich gefälligst nicht einmischen. In so einem Fall hat man ja leider nur beschränkte Möglichkeiten... und Geoffrey hetzte sie gegen mich auf. Er
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