Schlangenlinien
gegenüber nicht so ehrfürchtig gewesen wäre –, hätte ich ihm helfen können. So hab ich ihn im Stich gelassen.« Ich schwieg. »Und Alan auch«, setzte ich dann hinzu.
»Wusste Jock, dass Michael die Schule schwänzte?«
Ich legte die Hand auf den Türgriff. »Das glaube ich kaum«, antwortete ich trocken. »Der hat doch dafür bezahlt, sich einen blasen zu lassen, und nicht dafür, sich Geschichten über Sharons einzigen Sohn anzuhören.«
Ich verstand erst viele Jahre später, dass es in Michaels Gedichten mehr um Einsamkeit als um Liebe ging. Zu jener Zeit, als er sie mir aufs Pult legte, schwankte ich zwischen dem Verdacht, dass er sie irgendwo abgeschrieben hatte, dass es vielleicht Schlagertexte waren, und Bewunderung für einen Vierzehnjährigen, der mit Worten so ergreifen konnte. Eines aber stand für mich fest: dass diese Verliebtheit gar nicht normal war. Ich achtete daher darauf, ihn auf Abstand zu halten, um ihn nicht noch zu ermutigen.
»Wäre ich klug. Wäre ich schön. Dann würdest du mich anders
seh'n
und lieben.
Wäre ich älter. Wär ich ein Mann. Dann fände keiner was
daran,
dass du mich liebst.«
»Es macht mich so traurig,
eine Welt ohne Blumen zu sehen,
drum denk ich an Blumen, wenn meine Gedanken
zu dir gehen.
Es macht mich so traurig,
mitten in tödlicher Stille zu stehen,
drum denk an Musik ich, wenn meine Gedanken
zu dir gehen.«
* * *
Brief von Libby Garth – geschiedene Frau von Jock Williams, früher Graham Road 21, Richmond, jetzt in Leicestershire ansässig
Windrush
Henchard Lane
Melton Mowbray,
Leicestershire
4. Dezember 1989
Hallo Süße –
fröhliche Weihnachten! Ich hätte eine Karte geschickt, wenn ich nicht sicher wäre, dass Sam beim Lesen einen Tobsuchtsanfall bekäme. Weißt du, es kränkt mich immer noch, dass er sofort Jocks Partei ergriffen hat, ohne mich auch nur einmal anzuhören. Du behauptest zwar immer, es wäre nicht seine Art, von irgendjemandem schlecht zu denken – schon gar nicht von engen Freunden –, aber er muss schlecht von mir denken, wenn du ihm nicht einmal sagen kannst, dass wir noch Kontakt haben. Es ist leider wahr, bei Scheidungen wird nicht nur der Besitz aufgeteilt, auch die Freunde werden in zwei Lager gespalten. Na ja, wahrscheinlich ist es besser so, wenn er vor dem Thema Annie immer noch so ängstlich zurückschreckt.
Bist du eigentlich je dahinter gekommen, warum das so ist? Ich weiß, du sagst immer, er verdränge einfach alles, woran er sich nicht erinnern will – wie deine Kälte damals, euer Zerwürfnis, das beinahe zur Scheidung geführt hätte, deine so genannten ‘Vapeurs’, die polizeiliche Verwarnung, die du bekommen hast usw., usw. –, aber Annie kann doch jetzt nichts Erschreckendes mehr für ihn haben? Umgebracht hat er sie garantiert nicht, weil er nicht der Typ ist, der andere vor einen Lastwagen stößt! Das kann doch nur Derek Slater gewesen sein! Er war der einzige Kerl in der Graham Road, der so etwas fertig gebracht hätte.
Jim und den Mädchen geht es gut. Im Augenblick wehre ich mich standhaft gegen Jims Schmeicheleien, mit denen er mich überreden will, noch einen Versuch zu machen, um zu sehen, ob wir nicht einen Knaben zu Stande bringen. Ich sag ihm immer wieder, dass ich mit zwei kleinen Kindern und meinem Job in der Schule mehr als genug um die Ohren habe, aber er scheint mich für Superwoman zu halten. Mir ist schleierhaft, wie du ohne Kindermädchen zurecht gekommen bist. Ich dreh nur deshalb nicht durch, weil ich jeden Morgen in mein Auto steigen und den Tag mit meiner »Alternativ«-Familie in der Schule verbringen kann, auch wenn ich immer noch nicht herausbekommen habe, wie man einer Bande 14-jähriger Gorillas mit mehr Testosteron als Gehirnmasse beibringen kann, dass Lernen nützlich ist. Ich gehe jedes Mal mit dem Gefühl aus dem Klassenzimmer, sie hätten mich mit ihren scheußlichen Fantasien vergewaltigt. Hat so etwas zu deiner Agoraphobie nach Annies Tod beigetragen? Ich habe mich das oft gefragt. Ich weiß noch, dass du mal gesagt hast, du könntest es nicht aushalten, wie Alan Slater und Michael Percy Dich anstarren.
Apropos – ich lege zwei Zeitungsausschnitte bei. Einen über Michael, mit dem es rapide bergab geht, wie vom Sohn einer Nutte nicht anders zu erwarten. Ja, ich weiß, ich bin gemein, aber ich müsste schon eine Heilige sein, um dieses blonde Gift und ihren Sprössling nicht zu hassen; die Tussi hat schließlich im Gegensatz zu mir ein regelmäßiges
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