SCHLANGENWALD
den Grund zu gehen.
„Ich muss los. Wir sehen uns!“ Spontan drückte sie Sally einen Kuss auf die Wange.
Neunzehn
Freitag
1.
Niemand hatte am Vorabend von ihrer Rückkehr Notiz genommen. Kandin, den sie bei Emilio beim Abendessen traf, fragte nur, wie ihr die Höhlen im Nationalpark gefallen hatten. Er hörte nicht richtig zu, als sie von ihren Eindrücken erzählte, sondern wirkte völlig geistesabwesend. Wenig später verschwand er ins Büro und ließ sich nicht mehr blicken.
Paula hatte gehofft, Ricarda zu treffen, um ihr die neuesten Informationen von Blanco und Markus mitteilen zu können, doch ihre Freundin tauchte weder bei Emilio noch später im Bungalow auf.
Am nächsten Morgen erwachte Paula schwer wie ein Stein und konnte nicht fassen, dass die Zeiger des Weckers bereits neun Uhr zeigten. Hastig machte sie sich auf den Weg ins Büro, wo Kandin sie bereits ungeduldig erwartete. Er klopfte mit einem Kugelschreiber auf die Tischplatte seines Schreibtischs, als sie sich auf ihren Platz setzte. Der Computer war nicht angedreht und kein einziges Stück Papier lag auf seinem Arbeitsplatz.
„Gut geruht?“, begrüßte er sie knapp. Der süffisante Unterton in seiner Stimme war nicht zu überhören.
Paula überlegte, ob sie sich für ihre Verspätung entschuldigen sollte, aber sie hatte keine Lust dazu.
„Was steht heute auf dem Programm?“ Paula sah Kandin erwartungsvoll an.
„Nun, darüber würde ich mich gern mit Ihnen unterhalten. Ehrlich gesagt, bin ich mit der Qualität Ihrer Arbeit nichtzufrieden. Ich will Ihnen nicht verschweigen, dass ich gestern bereits mit Herrn Santo Kontakt aufgenommen und ihn gebeten habe, jemand anderem Ihre Agenden anzuvertrauen.“
Paula starrte ihn an.
„Nichts für ungut, Frau Ender, Sie sind eine nette Person, aber ich habe den Eindruck, dass Sie mit dieser Kampagne überfordert sind. Daher schlage ich vor, dass wir unsere Zusammenarbeit so bald wie möglich beenden.“
Kein verlegenes Räuspern, kein Zeichen des Bedauerns.
„Entschuldigen Sie, aber ich verstehe nicht ganz …“, stammelte Paula, als sie endlich ihre Sprache wiedergefunden hatte.
„Frau Ender, es wäre mir sehr recht, wenn Sie zum nächstmöglichen Zeitpunkt die Anlage verlassen würden. Am liebsten wäre es mir, wenn Sie noch heute Ihre Koffer packen und abreisen könnten. Ich sehe mich außerstande für Ihre Sicherheit zu garantieren, zumal Sie sich nicht an meine Anweisungen halten.“
Nun war klar, woher der Wind wehte. Es hatte nichts mit Paulas Kompetenz zu tun. Vielmehr wollte Kandin – oder wie immer dieser Mann, der da vor ihr saß, auch heißen mochte – sie loswerden. „Wenn Sie meinen, dass eine weitere Zusammenarbeit nicht sinnvoll ist, dann würde ich noch bis Sonntag früh hierbleiben und dann direkt nach San José …“
Kandin schnitt ihr das Wort ab: „Wie gesagt, es wäre mir lieber, wenn Sie schon heute die Ferienanlage verlassen würden. Ich muss heute Nachmittag für zwei Tage wegfahren, und es wäre mir lieber, wenn ich Sie persönlich wohlbehalten aus meiner Obhut entlassen würde. Danach können Sie gehen, wohin Sie wollen, und besuchen, wen immer Sie möchten. Ich nehme Sie gern bis Tamarindo mit. Soviel ich weiß, fährt heute kein Bus mehr in diese Richtung.“
„Vielleicht könnte mich Ricarda mitnehmen?“, versuchte Paula einer Autofahrt mit Kandin zu entgehen. Doch derwiegelte ab: „Bedaure, aber Ricarda arbeitet nicht mehr für uns. Sie hat gestern das Camp verlassen, weil sie, wie sie sagte, ein besseres Jobangebot angenommen hat. Gut, dass Sie mich erinnern. Ich soll Ihnen Grüße ausrichten. Leider musste sie los, bevor Sie von Ihrer Tour zurück waren.“
Paulas Herz klopfte wie wild und in ihrem Kopf surrte es. Was Kandin über Ricarda erzählt hatte, konnte nicht stimmen. Viel wahrscheinlicher war, dass er auch sie aus dem Camp geworfen hatte.
Kandin erhob sich und öffnete die Tür. „Ich werde gegen fünf Uhr Nachmittag von hier aufbrechen. Treffpunkt beim Wachposten. Bitte vergessen Sie nichts.“
2.
Die Gedanken jagten durch Paulas Kopf. Sie hatte noch unzählige Dinge zu tun, bevor Kandin sie aus dem Camp verbannte. Sie ging ins Vista Mar und genehmigte sich das traditionelle costa-ricanische Frühstück bei Emilio: Gallo Pinto – natürlich wieder mit Reis und Bohnen, dazu gab es Eierspeise und frisch gebackene Maistortillas. Wenn Paula wieder in Wien war, würde sie Monate keine Bohnen mehr essen, nach dieser
Weitere Kostenlose Bücher