Schlecht aufgelegt (German Edition)
eingefallen aus, es hatte offensichtlich schon einiges mitgemacht und war darüber alt, aber nicht klug geworden. «Ich arbeite jetzt seit fünfundvierzig Jahren. Seit fünfundvierzig Jahren! Die größte Scheiße habe ich gemacht. Ich habe im Dreck anderer Leute gewühlt und um halb vier Brötchen gebacken. Morgens! Ich habe Büros und Flure und Wohnungen geputzt. Ich habe Tieren das Fell abgezogen und Schrauben an Waschmaschinen festgemacht. Ich bin unzählige Male entlassen worden oder selber gegangen und habe immer wieder was gefunden. Aber ich habe in diesen fünfundvierzig Jahren keine einzige Freundschaft geschlossen. Nicht bei der Arbeit. Und wissen Sie, warum? Weil es da keine Freundschaften geben kann. Man arbeitet nicht zusammen, man arbeitet gegeneinander. In Wirklichkeit sind Sie allein. Und je größer die Gruppe ist, umso mehr sind Sie allein. Heute lächeln Sie alle an und erzählen Ihnen, die Gutschmidt kann nicht arbeiten und bedient dieses Softgewehr nicht richtig …»
«Software», korrigierte Kuli automatisch.
«… und sie will mit niemandem etwas zu tun haben, und die Hellste ist sie auch nicht. Das stimmt ja auch vielleicht, das alles.» Sie musste aufstoßen und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund. «Aber wenn ich jetzt nach Hause gehe, dann muss ich an all diese Fratzen nicht mehr denken. Dann bin ich zu Hause und gucke fern. Und bevor Sie jetzt denken, die arme Sau, die hat’s ja schwer – morgen sind Sie selbst die arme Sau. Morgen werden Sie dann durchs Dorf getrieben, junger Mann. Da können Sie einen drauf lassen. Die werden über Ihre Frisur quatschen, über Ihre Kleidung, über die Art, wie Sie sitzen, und über das, was Sie sagen. Die werden jeden Fehler, den Sie machen, durch den Wolf drehen, weil das von den eigenen Fehlern ablenkt. Gequatscht wird immer. Ich sag Ihnen das jetzt einmal: Halten Sie sich von allen fern, kümmern Sie sich nicht um die anderen, nur so halten Sie das durch.»
Kuli überlegte. «Was ist denn mit meiner Frisur?», fragte er dann.
Frau Gutschmidt erhob sich. «Der Zug kommt.»
Sie ging zur Bahnsteigkante. Kuli winkte ihr hinterher und tat so, als müsste er noch kurz telefonieren. Er würde die nächste Bahn nehmen.
P aul schloss die Tür zu seiner Zweizimmerwohnung auf, legte den Schlüssel auf das kleine, weiße Ikea-Schränkchen im Flur und machte Licht. Die Stille hieß ihn nicht willkommen. Stimmen, dachte er. Bewegung. Licht. Er ging ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein, das war eigentlich immer das Erste, was er tat, wenn er die Wohnung betrat. Meistens irgendein Doku-Kanal, ein beruhigender Sprecher, der ihm etwas über Ufos, Meeressäuger oder Alexander den Großen erzählte. Irgendetwas halt, wo man nicht zuhören musste und sich schlicht daran erfreuen konnte, dass ein Klangteppich gelegt wurde, der auch noch lustig vor sich hin flimmerte. Während ihm das ZDF also die Geheimnisse von Luxor nahebrachte, ging er an den Schreibtisch und drückte den blauen Knopf seines Computers. Er musste noch einmal an diese Lisa Gerhard denken. Ob es ihr besser ging? Ob sie ins Krankenhaus gefahren war? Ob sie immer noch den Teppich vollblutete? Ach, scheiß drauf. Das war echt eine bescheuerte Idee gewesen, da einfach so vorbeizugehen. Das ging ihn ja auch gar nichts an, was in fremden Wohnungen passierte. Hinter jedem Fenster ein Drama, das war Berlin, dachte er. Ach, das war wahrscheinlich gar nicht Berlin, das war mit Sicherheit überall so. Auch in Barcelona … Er nahm das Telefon und wählte eine ziemlich lange Nummer. Ein Freizeichen. Immerhin. Er wartete. Es tutete zwölf Mal, er hatte mitgezählt, das tat er immer, aber niemand ging ran. Er legte auf und seufzte.
Paul wählte eine andere Telefonnummer, die genauso lang war. Es meldete sich die Mailbox, besprochen auf Spanisch. Blieb ihm also nur noch eine Hoffnung. Er öffnete in seinem Computer die Videotelephonie und wartete darauf, dass seine Kontakte sich initialisierten.
Sie war offline. Scheiße. Der Tag war echt im Arsch. Paul steckte sich eine Zigarette an und blickte aus dem Fenster in die Nacht. Noch mal rausgehen? Einen Film gucken? Telefonieren? Aber mit wem? Hatten ja alle Familie. Oder waren sonst wie verschwunden. Vielleicht mal ein Buch lesen. Sollte man viel öfter tun. Er nahm einen tiefen Zug, dann schaltete er den Computer und das Licht aus. Zeit, sich die Zähne zu putzen. Zeit, ins Bett zu gehen.
Und dann noch eine zu rauchen.
[zur
Weitere Kostenlose Bücher