Schlecht aufgelegt (German Edition)
Blick auf die andere Seite der chronisch überfüllten Kreuzung, dorthin, wo der Mehringdamm die Gneisenaustraße kreuzte, die hier zur Yorckstraße wurde, dorthin, wo Berlins berühmteste Pommesbude stand, das Curry 36 . Das hatte er noch nie getan, das ergab überhaupt keinen Sinn, da musste er ja gar nicht hinschauen, was sollte da schon sein, was ihm wichtig sein konnte, schließlich hatte er ja schon gefrühstückt – und dennoch tat er es. Manche Dinge ließen sich einfach nicht erklären. Jedenfalls stand da ein Mann an einem Stehtisch und schaute zurück und winkte mit einem Stück seiner Currywurst, das er an einem Piekser aufgespießt hatte. Der Mann trug einen großkrempigen Filzhut und einen speckigen Mantel, und Paul hatte das Gefühl, dass der leicht modrige Eigengeruch des Kommissars durch den Smog und die Abgase hindurch einen direkten Weg in seine Nasenlöcher gefunden hatte, ohne sich um die Gesetze der Physik oder die Verkehrsregeln zu kümmern. Paul zuckte zurück, als hätte Kommissar Bernauer ihn gerade dabei erwischt, wie er Henning Bürger auf seinem Plakat ein Hitler-Bärtchen gemalt hatte, und flüchtete die Stufen hinunter. Er hatte Glück. Die U6 fuhr gerade ein. Es waren genügend Plätze frei, die in dieser Bahn allesamt in langer Reihe an der Fensterfront entlang verliefen und nicht wie üblich in Vierergruppen angeordnet waren. Paul ließ sich auf einen freien Platz fallen und atmete tief durch. Ja, klar, dachte er. Sie waren ja immer noch die Hauptverdächtigen. Sie wurden jetzt verfolgt, beschattet, überwacht und observiert. Da hieß es aufpassen, noch viel besser aufpassen.
Ihm gegenüber, auf der anderen Seite, saß so eine typische Prenzlauer-Berg-Mutti, so eine moderne, tolerante, teuer auf billig gestylte Vorzeigemutti, die wahrscheinlich die Grünen wählte, in einem teuren Altbau mit nur ganz leicht verwahrloster Fassade am Helmholtzplatz wohnte und deren Freund sein Architektur-Studium gerade beendet hatte und richtig gut in den Job gestartet war, während sie irgendwas mit Journalismus machen würde, aber erst, wenn der Sohnemann auch brav in die zufälligerweise ausländerfreie, dafür aber mehrsprachige Kita ging und dort sowie in den Nachmittagskursen und der musikalischen Früherziehung zu einem ebenso toleranten Jung-Architekten erzogen wurde. Paul konnte sich in solche Gedanken so richtig hineinsteigern. Sohnemann war vielleicht drei oder vier und ging der Frisur nach zu urteilen regelmäßig zum Haareschneiden, so aufwendig verwuschelt war sein blondes Haupt. Mit der Erziehung stand die Prenzlauer-Berg-Mutti noch so ein bisschen am Anfang, vielleicht wollte sie zu Zwecken der persönlichen Entfaltung da auch nicht vorschnell, also vor dem Abitur, regulierend eingreifen, jedenfalls hörte Sohnemann heute irgendwie aber auch so gar nicht und schrie und tobte die halbe U-Bahn zusammen. Es ging wohl um eine Tüte Gummibärchen, wenn Paul das richtig verstanden hatte. Die Prenzlauer-Berg-Mutti warf allenthalben ein entschuldigendes Lächeln in die Runde, ergriff sonst aber keine weiteren Maßnahmen. Die mitreisenden Eltern lächelten zurück, alle anderen schauten genervt und betreten nach unten. Es stimmte schon, es gab eine Zweiklassengesellschaft. Die mit Kindern und die ohne. Paul gehörte irgendwie zu keiner von beiden, das musste man erst mal hinkriegen. Seine Laune verschlechterte sich, wie immer, wenn er an Luna dachte. Vielleicht konnte die Aussicht auf Sophie Müller ihn aufheitern? Das war ja auch alles irgendwie Quatsch. Die war bestimmt zwei Meter breit und zwei Meter hoch, aber innerlich total nett. Und selbst, wenn nicht. Wie groß war wohl die Wahrscheinlichkeit, dass zwischen ihnen irgendetwas gehen könnte? Unter null war die. Außerdem kannte er sie ja noch nicht einmal.
Plötzlich schrie Paul auf. Friedrich hatte ihn ins Bein gebissen. Warum Paul wusste, dass der Sohnemann der Prenzlauer-Berg-Mutti Friedrich hieß, lag daran, dass die Prenzlauer-Berg-Mutti Friedrich nach dem Biss sanft und mit einem leichten Seufzen ermahnte, indem sie seinen Namen sagte: «Ach, Friedrich», sagte sie. Und: «Das tut man doch nicht.»
Paul hielt sich den Oberschenkel und wartete auf so etwas wie eine Entschuldigung. Stattdessen tauschte die Prenzlauer-Berg-Mutti einen Blick mit einer anderen Prenzlauer-Berg-Mutti schräg gegenüber, die ebenso nachsichtig zurücklächelte und nur leicht den Kopf schüttelte. Nein, diese Racker.
«Was sollte denn das?», motzte
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