Schlecht aufgelegt (German Edition)
Paul und zeigte anklagend auf den nassen Gebissabdruck auf seinen Jeans.
«Das würde ich auch gerne mal wissen, Friedrich», sagte die Prenzlauer-Berg-Mutti sanft, wahrscheinlich hieß sie Charlotte, und streichelte dem immer noch finster schauenden Friedrich über den Kopf.
«Der hat so böse geguckt», fauchte Friedrich und verschränkte die Arme.
«Ach, wolltest du deine Mama beschützen?», fragte die Frau, die wahrscheinlich Charlotte hieß, begeistert. «Das ist ja ganz, ganz toll von dir, mein kleiner Fritze!»
«Aber da musst du doch nicht gleich beißen!», schimpfte Paul und rieb sich weiter den Oberschenkel.
«Da hat der Mann natürlich recht», sagte die Frau milde und gab Friedrich zur Belohnung ein Stück Brezel.
Paul konnte es nicht fassen. «Was ist denn das für eine Erziehung, verdammte Scheiße!», rief er durch den Zug, der sich mittlerweile ordentlich gefüllt hatte, und erntete strafende Blicke von allen Seiten, vor allem, als Friedrich «Scheiße sagt man nicht» antwortete.
«Jetzt vertragt euch halt», sagte die Prenzlauer-Berg-Mutti namens Charlotte und schob Friedrich zu Paul hinüber, der gerne ausgewichen wäre, wenn es nur irgendwie gegangen wäre. Lustlos und trotzig stand der kleine Friedrich vor ihm. Da Paul saß, befanden sich beide auf Augenhöhe und blickten sich aus einer Entfernung von dreißig Zentimetern an wie zwei Haie vor dem einzigen nackten, blutigen Stück Fleisch.
«Und, Fritze, wo bleibt die Entschuldigung?», zischte Paul so drohend wie leise.
Mit einer blitzschnellen Bewegung stieß Friedrich Paul die Spitze seiner nicht mehr ganz taufrischen und daher schon recht harten Brezel ins linke Auge. Paul schrie auf vor Schmerz und konnte gar nicht anders, es war ein Reflex, er würde es nie wieder tun und hatte es auch noch nie getan, die Hand war einfach schneller als der Kopf, der Körper hatte seine eigenen Gesetze, es musste einfach raus, das war ein Abwehrinstinkt, der war im Menschen und der machte nicht halt vor Alter oder Geschlecht, jedenfalls: Paul gab Friedrich mit rechts eine Ohrfeige. Friedrich ließ die Brezel fallen, danach sich selbst und lag als heulendes Elend auf dem Boden der Berliner U-Bahn-Linie 6.
Hände griffen nach Paul, zerrten an ihm, rüttelten ihn, die Prenzlauer-Berg-Mutti, deren Namen jetzt auch egal war, schrie, ein Mann rief nach der Polizei, die andere Prenzlauer-Berg-Mutti suchte die Notbremse, es war ein riesiges Durcheinander, Paul bekam einen Schlag ins Gesicht, dann einen in die Magengrube, und er dachte im Blitzteil einer Sekunde, wenn er sich hier, in der Berliner U-Bahn, einen kleinen, albernen Schnurrbart angeklebt hätte und den Dritten Weltkrieg beschworen hätte, hätten die Leute nicht einmal von ihrer Zeitung aufgeblickt bzw. sich dahinter versteckt, und jetzt drehten sie alle durch, weil er einmal einen Reflex gezeigt hatte, und er war doch auch Vater, und es tat ihm doch wahnsinnig leid, und Friedrich konnte ja auch im Prinzip nichts dafür. An der nächsten Haltestelle stand er plötzlich draußen, er merkte, wie sein Auge zuschwoll, schmeckte Blut auf der Unterlippe und fühlte einen tief sitzenden Schmerz in der Magengegend. Seinen Oberschenkel ignorierte er. Als er in seine Jacke griff, merkte er, dass einer der Tiefschläge nichts mit Kinderschutz zu tun gehabt haben dürfte. Seine Geldbörse war weg.
« W o kommen Sie denn her? Und wie sehen Sie denn aus?», fragte Herr Kletzke weniger erschrocken als verärgert, als Paul mit einer halbstündigen Verspätung endlich im Call-Center eintraf.
«Bin überfallen worden», murmelte Paul undeutlich und stand in leicht gebeugter Haltung da wie Quasimodo vor seinem Herrn Dom Frollo.
«So, so, überfallen. Am helllichten Tag. Da haben Sie mal wieder eine zu dicke Lippe riskiert, was?», sagte Herr Kletzke und bemerkte seinen gelungenen Scherz erst einige Sekunden später und das auch nur, weil Paul angewidert die Mundwinkel hochzog und den Blick auf seine schlauchbootartige Unterlippe frei gab.
«Die halbe Stunde hängen Sie hinten dran, klar?», befahl Herr Kletzke und lachte, bis sich die Papierstapel auf seinem Schreibtisch bogen. Sein Tag war jedenfalls gerettet. Dann winkte er den leicht humpelnden Paul ab in die grell beleuchteten Untiefen der telefonierenden T2-Masse und widmete sich wieder seinem Schichtplan, den er seit einiger Zeit für den nächsten Monat erstellte. Paul wusste, dass das für Herrn Kletzke immer der schönste Teil seiner Arbeit war,
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