Schlecht aufgelegt (German Edition)
etwas, worauf er sich wirklich freute, wenn er morgens das Haus verließ. Herr Kletzke genoss es, wenn seine Mitarbeiter sich schüchtern dem Hügel näherten und etwas von «Überstunden abarbeiten» oder «wichtigen, unaufschiebbaren Zahnoperationen» stotterten oder dass sie am Neunundzwanzigsten aber auch wirklich gar keine Spätschicht machen könnten, weil die Emily oder der Emil da leider nicht von der Großmutter versorgt werden könnten, weil die nun mal genau an diesem Tage, dem Neunundzwanzigten also, im Krankenhaus eine kleine Operation an der Blase zu überstehen hätte. Herr Kletzke nickte dann stets, tippte sich mit dem Finger an die Nasenspitze, fixierte gedankenvoll eine der vielen Neonröhren an der Decke, um schließlich, je nach Sympathie, entweder für oder gegen den Bittsteller zu entscheiden. Martin Schulte und Sandy Schorndorf zum Beispiel hatten bislang jeden noch so absurden Wunsch erfüllt bekommen, Paul hingegen musste stets das Gegenteil von dem erfragen, was er wollte, um erfolgreich zu sein. Paul humpelte nun jedenfalls zwischen seinen mehr oder weniger konzentriert telefonierenden Kollegen hindurch wie ein Vietnamveteran nach dem letzten Gefecht. So aufrecht es eben ging, mit geradem Blick, aber voller innerer Verzweiflung und körperlich ziemlich versehrt. Ganz hinten hatte Kuli schon den Arm gehoben.
«Mann, wie siehst du denn aus? Na, ist ja auch egal», sagte plötzlich Richard Schiefelbeck, der wie eine Feder hochgeschnellt war und sich ihm in den Weg gestellt hatte. Paul wünschte sich augenblicklich den kleinen Friedrich zurück.
Richard Schiefelbeck war ein Meister des geschwungenen Wortes, er hielt sich für einen Charmeur, einen Mann von Welt, einen Künstler, der nur noch aus dem Call-Center weg entdeckt werden musste. Seit er im offenen Kanal einen Beitrag über ein Jugendzentrum senden durfte, nannte er sich Rundfunkjournalist. Seit er mit der Tochter seiner Frau einen Geburtstagsgruß auf Tonband aufgenommen hatte, einen Hörspielregisseur. Seit er für seinen Freund Matthias Barsch, der einen miserabel laufenden EDV-Service unterhielt, den Werbespruch «Computer im Arsch – Komm zu Barsch» entwickelt hatte, für einen Dichter und Marketing-Fachmann. Telefonieren konnte Richard Schiefelbeck leider nicht so gut, aber die T2-Schichtleiter waren dennoch froh, ein solches Genie in ihren Reihen zu wissen.
«Pass mal auf, ich will dich mal was fragen», sagte er eifrig und schien sich so gar nicht an dem zerzausten Paul zu stören oder dessen Zustand auch nur ansatzweise irritierend zu finden. «Du hast doch mal Germanistik studiert, oder?»
«Ja, und?», fragte Paul vorsichtig.
«Du bist also ein Mann des Wortes, der Sprache, kannst unterscheiden zwischen gut und schlecht, bist des Deutschen überaus mächtig», führte Richard Schiefelbeck aus, mit pathetischer Stimme und gewichtiger Pose wie ein Laiendarsteller der Shakespeare-Gruppe Wanne-Eickel Süd.
Oh Gott, dachte Paul. «Weiß nicht», sagte er.
«Ich habe da etwas geschrieben», sagte Richard Schiefelbeck. «Das habe ich bereits einigen Freunden vorgelesen, in geselliger Runde, das sind sehr gute Freunde, aber die sind nicht unkritisch, falls du das meinst, die sind sehr kritisch und aufmerksam, aber die haben das geliebt, verstehst du, die haben gesagt, das muss raus, das musst du veröffentlichen, das ist dein Durchbruch, du bist ja ein Literat, haben die gesagt, das ist großartig, du bist ein Künstler. Na ja, habe ich gedacht, das ist ja wahnsinnig nett, aber das muss ja erst mal jemand lesen, der sich da auskennt, der Ahnung hat von Sprache, und da habe ich an dich gedacht, Paul, ich weiß ja, wie intelligent du bist, alleine schon, weil du dich diesem ganzen Scheißladen – und du und ich wissen, dass das ein Scheißladen ist – so weit wie möglich entziehst. Verstehst du, das wäre wirklich wahnsinnig nett, und wenn du jetzt sagen würdest, das ist vielleicht doch nicht so gut, dann würde ich natürlich noch mal daran arbeiten, bevor ich mich bei den ganzen Verlagen vorstelle, und ich will an die ganz großen Verlage ran, verstehst du, auf jeden Fall, auf dich würde ich hören, Paul, du hast den Bogen raus.»
«Auf mich würdest du hören?», fragte Paul leicht ermattet. Richard Schiefelbeck hatte mit seinem Buchstabenschwall sein Abwehrzentrum lahmgelegt.
«Ja, sicher.»
«Weil ich mal Germanistik studiert habe.»
«Ja, sicher.»
«Ich hab das abgebrochen, Richard.»
«Das, Paul, ist es,
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