Schlechte Gesellschaft
dass der Bauer Brink selbst dem Kummer seiner Tochter ein Ende setzen wollte.
Für Kläre war es sicher so das Beste, und schon bald schien der unglückliche Vorfall im Dorf wieder vergessen. Nur meinten sich später einige der Frauen zu erinnern, dass etwa zu diesem Zeitpunkt die alte Irma Vahlen mit ihrem endlosen, unzufriedenen Geschimpfe begann.
Die StraÃen von Sehlscheid waren noch immer mit Schnee bedeckt, als Martha im Frühjahr geboren wurde. Gleich nach dem Unfall ihres Mannes hatte Kläre Vahlen den groÃen Hof der Eltern im Unterdorf verlassen, um mit ihren Söhnen zur Schwiegermutter zu ziehen. Die Hebamme war für die Geburt auf die Hüh gekommen. Hermann und Rudolf saÃen in der Kohlenkiste und horchten mit erschrockenen Gesichtern auf die Schreie ihrer Mutter. Zeternd hantierte die alte Vahlen mit Schüsseln und Tüchern. SchlieÃlich musste das Kind an den FüÃen herausgezogen werden, so dass es Kläre dabei heftig zerriss. Das fettleibige, schwächliche Mädchen, so hieà es im Dorf, sei wohl das letzte Ãbel, das Adam Vahlen seiner Frau hinterlassen hatte.
Am folgenden Tag trieb der alte Brink seiner Tochter ohne ein weiteres Wort drei Kühe und fünf Mastschweine auf den Hof. Durch diese späte Mitgift mit dem Nötigsten ausgestattet, bemühten sich die beiden Witwen nun gemeinsam um das Ãberleben der neu entstandenen Familie. Wie zwei ungleiche Schwestern blieben sie in Trauer gekleidet. Dabei war man sich im Dorf einig, dass es den Vahlens auf der Hüh bald besser erging als je zuvor.
An den Apfelbäumen hingen bereits winzige, harte Früchte, und auch die Kirschen waren längst verblüht, als die kleine Martha sich eines Tages rollend und schiebend auf ihrer Sackdecke fortzubewegen begann. GleiÃendes Sonnenlicht hatte sich über die Hügel gelegt und schlug helle Schneisen durch die Buchenwälder. Das Leuchten des satten Grüns, der Duft des Holunders und das Rufen der Vögel erfüllten die Luft. Der alte Schnapp, den die GroÃmutter mit der Aufsicht des Kindes betraut hatte, döste im Schatten des Vordachs. Irma rupfte hinter dem Haus ein Huhn und kam gerade noch rechtzeitig, um Martha aufzuhalten, bevor sie sich den steilenHügelpfad hinunterrollen konnte. Sie riss das strampelnde Bündel hoch und strafte erst den Hund, dann das Mädchen mit einem Blick, in dem sich Strenge und Stolz mischten.
»Denkst, du kannst dich fortmachen?«, schimpfte sie, so dass Martha in ihren Bewegungen innehielt und die GroÃmutter mit aufgerissenen Augen betrachtete. Irma setzte das Kind auf den Boden zurück. Zufrieden trat sie einen Schritt zur Seite, um zu beobachten, wie es sich von neuem abmühte vorwärtszukommen. »Na, wirst schon sehen«, sagte sie.
Staub (April 2007)
Wieland blinzelte. Sein rechtes Augenlid hörte nicht auf zu zucken. Seine Haut brannte vom SchweiÃ, sein Nacken schmerzte.
Ãber die ganze Länge des Dachbodens waren Stapel von Aktenordnern, Papierrollen und riesige Bücherkisten verteilt. Ein Raubvogel, vielleicht ein Kauz, musste hier sein Nest haben. Im Licht der Glühbirnen, die das wenige Tageslicht nur dumpf verstärkten, sah Wieland die Ãberreste seiner Mahlzeiten herumliegen â kleine Gewölle aus Mäusefell und Knochen. Im breiten Sonnenstrahl, der durch das einzige Dachfenster trat, wirbelten Staubkörner. Ein weiterer, ungewöhnlich warmer Frühlingstag erhitzte drauÃen, knapp über ihren Köpfen, das Dach.
Judith saà auf zwei übereinander gestapelten Holzkisten und nummerierte die Papiere, die Wieland in den einzelnen Ordnern fand. Wenn er ihr etwas zeigen musste, oder sie etwas vorlas, war es ihm unangenehm, ihr nahezukommen, so verschwitzt fühlte er sich. Erfolglos versuchte er, mit einem Räuspern seine Luftröhre vom Staub zu befreien. Seit seiner Ankunft in Sehlscheid vor drei Tagen hatte er nicht mehr als ein paar Stunden geschlafen.
Nachdem Judith am Vorabend gegangen war, hatte Wieland in seinem Hotelzimmer noch lange darüber nachgedacht, was sie eigentlichvon ihm wollte. »Wenn Sie mir helfen, helfe ich Ihnen«, hatte sie gesagt. Und für Wieland klang das verführerisch. Dann hatte sie ihm angeboten, gemeinsam den Nachlass zu sichten und die Briefe zu suchen. Natürlich hatte er sofort eingewilligt. Erst hinterher war ihm aufgefallen, dass er gar nicht wusste, worin genau sein Teil der
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