Schlechte Gesellschaft
bereits zu spät. Schütz saà reglos im Lehnstuhl. Sein ungekämmtes Haar lieà an mehreren Stellen die bläuliche Kopfhaut durchschimmern. Es sah aus, als würden seine Augen sie noch erkennen. Irma schüttelte ihn sanft, aber seine hageren Schultern waren bereits steif und kalt.
In Sehlscheid wurden zu dieser Zeit die ersten Wochengehälter ausgezahlt. Die Knopffabrik Hingst vergab Heimarbeit. Die jungenMänner gingen bei Vahlen in Arlich, bei Fockenbach oder beim Fabrikanten Kemmstein in die Lehre, der Dosen für die in Japan beliebte Haarpomade herstellte. Und auch der alte Kehl konnte mit seinem Kolonialladen im Oberdorf inzwischen zwei Angestellte beschäftigen.
Nachdem Sehlscheid offiziell zum Luftkurort erklärt worden war, lieà der Verkehrs- und Verschönerungsverein an den Waldwegen Ruhebänke aufstellen. Gleich neben dem neuen Schulgebäude weihte einer der Brink-Söhne mit Kapelle und Tanz das dritte Gasthaus mit über zwanzig Fremdenzimmern ein. An heiÃen Tagen fuhr ein Sprengwagen über die StraÃen, damit der Staub den Sommergästen nicht in die Kleider geriet. Der Bürgermeister lieà ein Ehrenmal für die Toten von 1870 sowie einen Zierbrunnen errichten. Und am Hahn wurde ein Tennisplatz angelegt, auf dem noch im Herbst die Damen aus der Stadt in weiten Röcken umherliefen und spitze Schreie ausstieÃen.
Wenn Jud Wolf mit seinem Wagen voller Kochtöpfe, Rasiermesser und fester Stoffe von der Melsbacher Hohl herauf kam, sah er die Bäuerinnen des Unterdorfes in ihren Vorgärten nun Tulpenzwiebeln setzen. Samstags harkten sie die Höfe. Und wo bisher immer dieselbe Uhr und dieselbe handbestickte Schürze von Vater zu Sohn und von Mutter zu Tochter weitergereicht worden waren, begann sich für den Händler das Geschäft mit Bordüren und Schleifen, mit Broschen und Hüten nach städtischer Mode in Sehlscheid zu lohnen.
Nie waren die Frauen von Sehlscheid prächtiger herausgeputzt als für die Hochzeit der hübschen Kläre Brink mit dem einzigen Sohn der Witwe Vahlen. SchlieÃlich handelte es sich um die Tochter des reichsten Bauern im Ort. Und auch wenn Adam Vahlen ein Junge von der Hüh blieb, so trug er doch zumindest den Namen der berühmten Fabrikantenfamilie seines Vaters.
Adam hatte dunkles Haar und einen schnellen Verstand. Das vorstehende Kinn, die lange Nase, der breite Mund kamen ganz offensichtlich von Seiten der Wittlichs. Seine zarten Hände undfeinen Glieder schrieb man dem Vater zu, an den sich die Frauen des Dorfes noch gut erinnerten. Doch Adams schönes Lächeln hatte man so nur bei Irma Vahlen gesehen.
Der Junge war von klein auf vorlaut. Er kniff und boxte seine Mutter, und in der Schule sorgte er häufig für Aufruhr. Aber wenn Irma am Sonntag mit ihrem hübschen Sohn zur Kirche ging, fühlte sie sich wie eine der vornehmen Mütter auf der Koblenzer Rheinpromenade.
Adam begann früh damit, in der Gastwirtschaft zu prahlen, was er alles anstellen wollte mit seinem Leben. Dabei war bekannt, dass ihn keiner der Lehrer an die höheren Schulen empfohlen hatte. Er brachte es nicht weiter als bis zum Hilfsarbeiter bei Fockenbach. Und auch die Geburt seiner beiden Söhne Hermann und Rudolf änderte nichts daran, dass er jeden Wochenlohn vertrank.
Einmal benahm sich Adam auf einer Vatertags-Fahrt mit dem Gesellschaftswagen durch die Dörfer derart schlecht, dass hinterher keiner seiner Freunde mehr bei ihm sitzen wollte. Die Dienstpflicht in der PreuÃischen Armee leistete er im linksrheinischen Koblenz ab. Ansonsten kam der junge Vahlen über die Grenzen des unteren Westerwalds nie heraus. Statt dem Bauern Brink bei der Ernte zu helfen, legte er sich mit den Schwägern an. Statt seine Frau zu ehren, sah er anderen hinterher. Statt seine Mutter auf dem Hof zu unterstützen, bat er sie regelmäÃig um Geld.
Und dann wurde Adam eines Morgens im Stall seines Schwiegervaters kotverschmiert und vom Vieh zertrampelt aufgefunden. Am Vorabend hatte man ihn noch das Gasthaus verlassen und wankend durch das Gebück ins Unterdorf gehen sehen. Die hochschwangere Kläre wartete zu Hause mit den Kindern vergeblich. Schwer betrunken und in dunkelster Nacht musste Adam in den Brinkschen Bullenverschlag geraten sein.
Vielleicht hatte einer seiner Freunde sich einen bösen Scherz mit ihm erlaubt. Für wahrscheinlicher hielten es die Bewohner von Sehlscheid,
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