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Schlechte Gesellschaft

Titel: Schlechte Gesellschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Born
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Judith. »Obwohl bei uns die Bücher allen gehörten. Aber für jeden bedeuteten sie letztlich etwas anderes. Jeden machten sie auf andere Weise stark. Und am stärksten wurde am Ende meine Mutter.«
    Warum die Mutter, fragte sich Wieland? Warum nicht Peter Vahlen, der Schriftsteller, oder sie selbst? Waren es die Drehbücher von Villa Westerwald , die Hella Vahlen zu dieser stolzen und überheblichen Witwe gemacht hatten? Aber in diesem Moment kam Judith noch näher, fühlte er ihren Atem an seinem Hemdausschnitt. Und dann küsste sie ihn.
    Ihre Lippen drückten sich auf seine. Er schmeckte ihre Zunge. Ein leichter Schwindel erfasste ihn. Judiths Hand berührte seine Schulter, streichelte seine Brust. Am Rücken spürte er den sanften Druck ihres anderen Arms.
    Mit einer etwas zu fahrigen Bewegung ließ Wieland die Papiere, die er noch in der Hand hielt, auf den Tisch fallen. Er wollte sich konzentrieren, bemühte sich, Judiths Kuss zu erwidern, geriet dabei in Panik und fasste, ohne es zu wollen, plötzlich hart zu.
    Er nahm sich vor, jede Einzelheit dieses Kusses zu registrieren, um sich später daran zu erinnern. In Villa Westerwald wäre Judith »die Tochter« – dargestellt von der hinreißenden Minna Maria Garns. Es war, als sehe er sich selbst dabei zu, wie er am zarten Stoff ihres Kleides zerrte. Er tastete sich die Wirbel ihres Rückens herunter, fühlte ihre Hüftknochen, zog ihren Hintern mit beiden Händen an sich. Judith hing jetzt beinahe in seinen Armen.
    Wieland öffnete die Augen und sah Alexia, die noch immer in der Ecke des Dachbodens saß, zu ihm herüberblicken. Er machte sich los.
    Â»Einen Moment«, murmelte er. »Ihre Tochter. Sie langweilt sich bestimmt.«
    Judith lachte auf. »Alexia langweilt sich sicher nicht«, rief sie zu ihr herüber. »Wolltest du nicht noch zum Reiten? Nimm dir Geld aus meiner Tasche, ja?«
    Alexia ließ einige der Karteikarten in ihre Umhängetasche gleiten und stand auf.
    Â»Lasst euch von mir nicht stören«, sagte sie kühl.
    Dann verschwand sie polternd im Treppenaufgang und ließ weiter unten die Tür zum Dachboden zufallen. Judith, die aufmerksam gelauscht hatte, bis die Schritte ihrer Tochter nicht mehr zu hören waren, wandte sich wieder zu Wieland um.
    Â»Sind Sie verheiratet?«, fragte sie.
    Â»Nein, ich …, warum?«, sagte er verlegen.
    Â»Weil Sie küssen, als wären Sie verheiratet.«
    Wieland hätte gerne etwas Kluges entgegnet. Er stellte sich vor, wie Gellmann mit Judith zusammen gewesen war. Für einen wie Gellmann musste Körperlichkeit lediglich die natürliche Erweiterung seiner Empfindungen bedeuten. Jederzeit könnte der Dramatiker die Einzelheiten eines sexuellen Vorgangs in Sprache fassen.
    Â»Machen wir weiter?«, fragte Judith.
    Wieland verstand nicht gleich, was sie meinte. Aber dann antwortete er mit ebenso zweideutigem Bedauern: »Wenn wir heute Abend noch etwas anderes machen wollen, müssen wir uns ranhalten.«
    Â»Jawohl, mein Doktorand«, sagte Judith erneut auflachend.
    Â»Nennen Sie mich Andreas«, sagte Wieland und merkte, wie er wieder rot wurde. Gleichzeitig verspürte er Stolz in sich aufkommen. Aus dieser Geschichte könnte für ihn eine große Sache werden. Er ordnete einen wichtigen Nachlass, an den außer ihm niemand herangekommen war. Und er hatte das ganz allein erreicht. So verkrampft, wie er auf Leute wie Judith und Gellmann vielleicht wirken mochte, war er nicht. Sie würden das schon noch merken.
Das Haus im Aulbachtal (August 1968)
    Im Grunde gefalle ihr die Idee, auf dem Land zu leben, sagte Hella beim Frühstück und blinzelte dabei in die Morgensonne, die durch das Fenster des Schankraums fiel. Sie erzählte von dem Haus, das sie geerbt hatte, und von ihrem Vater, den sie kaum gekannt habe. Er sei ein Nazi gewesen, sagte sie, und Gellmann wunderte sich, mit welcher Sanftheit sie das sagte.
    Auch Vahlen tat, als wäre es gar nicht abwegig, inmitten von Spießern und reaktionären Bauern in einer Nazi-Villa im Westerwald zu wohnen. Er bestrich ein Brötchen nach dem anderen mit Marmelade, um es schnell herunterzuschlingen. Kauend sprach er vom Kontakt zur Natur, vom ruhigeren Arbeiten und – hier musste Gellmann lachen – von Schnittlauch und Radieschen aus dem eigenen Garten.
    Längst war keine Rede mehr davon, Gellmann an irgendeinem Bahnhof

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