Schlechte Gesellschaft
Stimme. »Sie hat sich umgebracht.«
Mit einem Schlag war Gellmann klar, in was für eine Situation er hineingeraten war.
»Verstehe«, sagte er.
Einen Moment lang schwiegen beide. Vahlen blickte Gellmann an.
»Mach nicht so ein betroffenes Gesicht«, sagte er schlieÃlich und schenkte nach.
Gellmann nickte. Das offene Feuer im Kamin vertrieb langsam die Kälte. Das Arbeitszimmer wirkte geheimnisvoll. Er bekam Lust, sich hier an die Schreibmaschine zu setzen. Wahrscheinlich hatte Vahlen recht. Was hatte er schon zu verlieren? Einige Tage auf dem Land könnten ihm guttun. Sobald die Stimmung umschlug, musste er eben gehen.
Mit den Fingern fuhr er über den angegriffenen Stoff des Sessels, in den Muster von Blumen und Zweigen gewebt waren. So etwas gibt es gar nicht mehr, dachte er. So etwas ist unbezahlbar. Er wollte diesen Gedanken, von dem er meinte, er könne Vahlen gefallen, gerade aussprechen. In dem Moment trat Hella mit einem Topf Gulasch in den Raum.
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Zweiter Teil
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Martha Vahlen
Zwei Brüder (Sommer 1914)
Als in Sehlscheid die Nachricht von der Kriegserklärung eintraf, zogen auch Hermann und Rudolf Vahlen johlend durch die StraÃen. Aber während die anderen Mütter das Unterzeug der jungen Männer mit Wäschetinte zeichneten und man im Gasthaus den Frontverlauf voraussagte, wirkten die Vahlen-Frauen unbeteiligt. GroÃmutter Irma schaute kaum von dem Huhn in ihrer Schürze auf, als die Enkel mit erhitzten Gesichtern von ihrem bevorstehenden Einsatz erzählten. »Geht nur, wird eh nix aus euch werden«, sagte die Alte. »Lasst euch den Kopf wegschieÃen. Habt ja zwei davon.« Dann klemmte sie den frisch abgebrühten Hühnerleib fester zwischen ihre Knie und rupfte mit verkniffenen Lippen weiter.
Auch die Witwe Kläre melkte morgens wie immer die Kuh, setzte mittags WeiÃkäse an und leerte abends wortlos die Futtereimer in die Tröge. Wenn Hermann und Rudolf bei Tisch die neuesten Fortschritte bei der Mobilmachung besprachen, traf sie der strenge Blick ihrer Mutter. »Ihr geht zusammen«, sagte Kläre. »Keiner von euch kommt mir ohne den anderen wieder. Und damit Schluss. Ich will vom Krieg nichts mehr hören.«
Am schlimmsten schien Martha zu leiden, dass Hermann und Rudolf sie verlassen würden. So groà und imposant die Brüder mit den Jahren geraten waren, so traurig wirkte die kleine Martha. Ihr geblähter Bauch lieà die Beine aussehen wie dürre Stäbe. Die Augen wirkten übergroÃ, Gesicht, Hals und Arme waren von Rötungen und Knoten überzogen. AuÃer Irma Vahlen, die ihre einzige Enkelin schon früh an ihre Seite genommen hatte, ahnte niemand etwas von Marthas nur langsam wachsender Schönheit.
Die Dorfkinder ärgerten das dickliche Mädchen. Sie versteckten Marthas Schuhe, und sie musste barfuà nach Hause gehen. Sie benannten die hässlichsten Fratzen auf ihren Schiefertafeln nach ihr. Und manchmal waren ihre Hänseleien so schlimm, dass Martha die Worte nicht einmal vor ihren Brüdern wiederholen konnte. Aber erst, wenn die Kinder ihren toten Vater beleidigten, wenn sie Adam Vahlen einen Nichtsnutz und Trinker nannten, wehrte sich Martha. Mit aufgeblasenen Wangen rannte sie den Quälgeistern auf dem Pausenhof hinterher, und in ihren Augen blitzte eine Wut auf, die zu ihrem stillen Wesen gar nicht passen wollte.
Wann immer sie in der Nähe waren, traten Rudolf und Hermann für Martha ein. Den Mädchen drohten sie, die Jungen verprügelten sie. Einmal musste Hermann die Schwester aus dem Ziegenstall des Kolonialwarenhändlers Kehl befreien. Lange wurde in Sehlscheid darüber gelacht, wie Rudolf daraufhin den jungen Kehl, der eigentlich zu alt war, um kleine Mädchen wie Martha zu ärgern, für eine ganze Nacht in sein Plumpsklo eingesperrt hatte.
Rudolf und Hermann übertrafen sich gegenseitig in den Bemühungen um ihre Schwester. Sie stritten auch um das Lob der Mutter, und einer wollte der GroÃmutter besser zur Hand gehen als der andere. Ihr Ehrgeiz wurde immer gröÃer, der Kampf rücksichtsloser. SchlieÃlich standen die Vahlen-Brüder im Wettstreit um die Zuneigung überhaupt jeden weiblichen Wesens im unteren Westerwald.
Der schöne, hochgewachsene Hermann gewann im allgemeinen die Herzen der Mädchen als erster. Weil er aber zurückhaltend war, während Rudolf die Verehrerinnen seines Bruders neckte,
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