Schlechte Gesellschaft
zugänglich sind.«
»Was heiÃt für Sie vollständig?«
»Na«, sagte Wieland etwas irritiert. »Ich meine, dass alle Informationen und nachgelassenen Dokumente, die man zu einem Autor und seinem Werk finden kann, möglichst an einem Ort zusammengefasst sein sollten.«
»Sind Sie sicher?«, fragte Judith.
Wieland verstand nicht.
»Sagen wir, Ihre Mutter stirbt morgen, und jemand hat alle Papiere gesammelt, die sie aufbewahrt hat. Und stellen Sie sich vor, der behauptet dann, das wäre die vollständige Information über sie.« Judith sah ihn an. Sie schien ihn abschätzen zu wollen. Aber Wieland war sich noch immer nicht sicher, worauf sie hinauswollte.
»Verstehe«, sagte er.
»Gut. Die meisten verstehen es nicht. Wussten Sie, dass meine Mutter als schwierige Witwe gilt? Und das nur, weil sie nicht gleich jedem Zeitungsvolontär oder Studenten alles zeigen will.«
»Wer war denn hier?«
»Hier oben war noch niemand.«
»Und wer wollte den Nachlass ansehen?«, fragte er noch einmal.
»Ein paar Wissenschaftler und Verlagsleute. Oft nur Praktikanten. Die meisten melden sich ein einziges Mal. Meine Mutter sagt dann, sie hätte erst in ein paar Wochen Zeit, und bis dahin haben die es dann wieder vergessen.«
»Warum?«
»Ich weià nicht. Die denken wohl, wir müssten ihnen hinterhertelefonieren. Oder sie meinen es nicht wirklich ernst.«
»Und was bringt Sie dazu zu denken, ich würde es ernst meinen?«
Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht. Mit der anderen Hand, oder eher mit dem, was an ihrer Stelle war, wie Wieland mit Unbehagen feststellte, hielt sie das Notizbuch geöffnet.
»Schwer zu sagen. Ich weià nicht, ob Sie es ernst meinen. Es scheint Sie zumindest zu interessieren. Sie sind hierhergekommen. Auf eine etwas merkwürdige Art, aber immerhin. Sie sehen klug aus, und Sie scheinen Verständnis zu haben für unsere Situation.«
Wieland war verlegen. »Es muss seltsam für Sie sein, sich die Papiere Ihres Vaters anzusehen«, sagte er, um das Thema zu wechseln.
»Ja«, sagte Judith. »Ich mochte meinen Vater sehr und habe seine Arbeit bewundert.« Sie machte eine kurze Pause. »Ist Ihr Vater auch an der Universität?«
»Er war Steuerprüfer beim Finanzamt. Er ist im Ruhestand«, sagte Wieland.
»Oh.«
»Ja. Das ist nicht besonders spannend.«
»Das kann spannend sein«, sagte Judith. »Es kommt nur darauf an.«
»Bei ihm war es nicht spannend«, sagte Wieland.
»Sie scheinen Ihren Vater nicht zu mögen?«
Wieland dachte, im Grunde habe sie recht. Bewundert hatte er ihn zumindest nie.
»Er hat meine Mutter verlassen«, rutschte es Wieland heraus. Er glaubte nicht, dass Judith sich wirklich dafür interessierte, woher er kam und wie sein Verhältnis zu seinem Vater war. Sie stellte die Fragen aus einer für sie selbstverständlichen Freundlichkeit heraus.
»Und Sie? Warum sind Sie nicht Steuerprüfer oder Jurist geworden wie Ihr Vater?«, fragte Judith weiter. »Was hat Sie zur Literaturwissenschaft gebracht?«
Wieland kannte diese Frage. Schon seine Schulfreunde hatten ihn belächelt, weil er lieber mit einem Buch zu Hause blieb, als mit ihnen im FuÃballstadion zu frieren. Aber die Mädchen hatten sich beeindruckt gezeigt, wenn sie mit ihren Fingern über die Buchrücken in Wielands Regal gestrichen waren, als würden sie die Witterung von etwas Hintergründigem aufnehmen. Und schon bald hatte er damit begonnen, die Bücher bewusst auszuwählen, die er auf seinem Nachttisch liegen lieÃ. Wann immer er an seine Kindheit dachte, sah er sich mit einem Buch in einer Ecke der Wohnzimmercouch sitzen. Eigentlich nicht viel anders als sein Vater mit dem Fernseher. Still. Zufrieden. Unangreifbar.
»Ich glaube, ich bin von selbst darauf gekommen«, sagte er langsam. »Die Bücher gehörten mir ganz allein. Sie haben mich verändert, mir geholfen. Ich wollte immer herausfinden, wie sie das gemacht haben.«
»Das ist sehr schön, was Sie da sagen.« Judith kam näher. Sie roch nach Parfüm. Jasmin, dachte er. »Vielleicht hätten Sie lieber selbst schreiben sollen, statt Literaturwissenschaftler zu werden.« Sie legte ihren Kopf in den Nacken, und Wieland fragte sich, ob sie wusste, wie verführerisch sie dabei aussah.
»So ging es mir übrigens auch«, sagte
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