Schlechte Gesellschaft
sich eingestehen, von den unterschiedlichsten Männern, von denen keiner auch nur entfernt an Peter Vahlen heranreichte. Zugleich war sie wütend auf sich selbst, dass sie ihre Zeit mit ihm nicht ausreichend genutzt hatte.
In dem Manuskript würde sie sicher mehr über sich selbst und ihre Familie finden, als ihr lieb war. Aber es wirkte noch sehr roh. Ganze Szenen waren zusammenhanglos, oft nur in Stichpunkten notiert oder brachen in der Mitte ab. Die auf den ersten Blick so offensichtlich wirkenden Namensentsprechungen erwiesen sich als Täuschung. Einiges lieà sich beim besten Willen nicht einordnen.
Das hatte er also zurückgelassen, der wunderbare Peter Vahlen. Vereinzelte Bilder, Andeutungen und Skizzen â eine verworrene Geschichte, voller Risse und Lücken. Aber vielleicht musste es so sein am Ende eines Lebens. Was hatte sie denn gedacht, im Nachlass zu finden nach all den Jahren? Einen Abschiedsbrief? Ein Geheimnis, das ihr Leben verändern würde?
Sie versuchte, einige Teilstücke des Manuskripts anhand ihrer Ãberschriften in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen. Sie begann, das Ende eines Dialogs, den ihr Vater nur stichwortartig festgehalten hatte, auszuformulieren. Aber ihre Sätze klangen hölzern und bemüht.
Sie schloss die Mappe und warf sie zurück in die Plastikwanne. Jemand anderes würde das Fragment bearbeiten müssen. Judith wünschte sich, dass dieses Manuskript zu einem Buch würde. So lückenhaft und gebrochen es war, es würde Vahlens Worten wieder einen Platz in den Köpfen verschaffen.
Wieland wäre vielleicht der Richtige für diese Aufgabe, der etwas seltsame, aber doch sympathische und vor allem zuverlässig wirkende »Herr Doktor«, wie sie ihn ironisch nannte. Es gefiel ihr, mit ihm zusammenzuarbeiten. Zumindest, dachte sie jetzt, war es angenehmer,jemanden an ihrer Seite zu haben, als allein in diesen Erinnerungen zu stöbern, die nirgends hinführten.
Sie griff nach einem der Notizbücher und begann zu blättern. »Die Erfindung des Glücks«, stand da in Bleistift geschrieben und mit blauem Kugelschreiber unterstrichen. Und es folgte ein Eintrag, mehrfach überarbeitet mit Streichungen und Ãnderungen zwischen den Zeilen, die Liebeserklärung eines Vaters an sein ungeborenes Kind.
Der Kanonier, die Walze und das Mädchen (Herbst 1916)
Ein dumpfer Knall. Rudolfs Ohr schien sich nach auÃen zu stülpen. Ein Sausen wie von einem Sog, ein Fiepen. Dann nichts mehr. Ein dröhnendes, pochendes Nichts.
Die Haubitze auf seinen Beinen, musste er mitten im Nachtgefecht eingeschlafen sein. Kurz dachte er, ein Schrapnell hätte sein Trommelfell zerrissen. Er wäre taub oder wahnsinnig geworden oder beides gleichzeitig. Doch da setzte das Zischen, das Hämmern, das Flackern und Wimmern wieder ein. Und angesichts der Gesichter der Toten, die im kurzen Feuerleuchten über den Gräben zu sehen waren, schloss Rudolf Vahlen, Kanonier der 4. Kompanie des 2. Bataillons im 479. Infanterieregiment, wieder seine Augen.
Die Bataillone steckten in Ypern im Stellungskrieg fest. Eine Feuerwalze nach der anderen tobte über die Schützengräben hinweg. Was von den Mannschaften übrigblieb, wehrte mit Granaten die feindliche Infanterie ab, bis sie von den Kanonen eingeholt wurde. Unter den festgefrorenen Schäften ihrer Stiefel begannen den Rekruten die Beine abzufaulen. In den Verschlägen und Erdhöhlen fraÃen nachts die Ratten ihre Ohren an. Wochenlang zogen die Männer die Geschosse durch knietiefen Schlamm. Dann erst stand der Wind günstig für das Gas.
Als das Grünkreuz nichts mehr anrichtete, setzte Rudolf Blaukreuzein, so dass die französischen Soldaten sich vor Husten das Mundstück herunterreiÃen mussten. Dann schoss er Gelbkreuz nach, bis sich in den Trichtern nichts mehr regte. Wie Geister suchten sich die zurückgebliebenen, mit Gasmasken geschützten Hunde und Pferde ihren Weg über das Schlachtfeld. Rudolf ertappte sich dabei, wie er beim Einschlafen hoffte, nicht wieder zu erwachen.
SchlieÃlich schickte man ihn im Herbst 1916 nach Hause. In Arlich wurden inzwischen Schienen für das gesamte Kaiserreich hergestellt. Das Fockenbach-Werk hatte Rudolf als unabkömmlich für die Kriegswirtschaft angefordert. Die meisten Frauen von Sehlscheid arbeiteten im Walzwerk oder bei Hingst. Noch die jüngsten unter ihnen stanzten
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