Schlechte Gesellschaft
er meinte, Hella werde sich nun gleich nach ihm umdrehen, beugte er sich langsam zu ihr hinunter. Er pustete über ihr Ohr, berührte ihren Hals mit der Zungenspitze und strich gleichzeitig mit einer Hand herunter zwischen ihre Beine.
Er spürte, wie Hella zusammenzuckte und glaubte schon, sie würde ihn jetzt küssen. Aber sie stand auf, drehte sich zu ihm um und schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht.
Am nächsten Tag fuhren die Mähdrescher über die StraÃe hinterdem Waldstück auf die Felder im Tal. Die Luft war voll Strohstaub, die Hitze schon mittags drückend. Hella überredete Vahlen, mit ihnen spazieren zu gehen, rollte sich während des Picknicks mit ihm auf der Wiese herum und begann zweimal, ihn vor Gellmanns Augen abzuküssen. Gellmann lag im Schatten einer Eiche und blickte in den Himmel. Er war nicht der Typ für Eifersuchtsdramen. Und schon bald begann die Situation ihn zu langweilen.
Nachlass (April 2007)
Judith las einen Absatz, blätterte in den beidseitig mit Schreibmaschine beschriebenen Seiten, um zu sehen, wie lang das Kapitel noch sei. Die Frau, um die es ging, war eindeutig ihre Mutter. Der Mann, in den sie verliebt war, Gellmann. Judith lachte, ausgerechnet Gellmann.
Sie lag auf ihrem Bett, neben ihr die groÃe Plastikwanne, in die Wieland sämtliche Papiere gepackt hatte, die offenbar zum Manuskript gehörten: Die Mappe mit dem Typoskript, eine weitere mit losen Zetteln, ein halbes Dutzend zum Teil nur angefangener Notizbücher und zwei Schuhkartons. In den einen hatten sie die Fotos gelegt, in den anderen die historischen Dokumente â Arbeitsbescheinigungen, Feldbriefe, Zeitungsausschnitte â fast immer ging es um einen Vahlen. Zwei kleine Gedichtbände aus den zwanziger Jahren waren dabei, die Memoiren eines Feldwebels aus dem Ersten Weltkrieg, und eine kleine Blechdose mit der Aufschrift »Kemmsteins feine Haarpomade«.
Wieland hatte recht. Es schien sich bei dem Manuskript ihres Vaters tatsächlich um eine Fortsetzung von Westerwald zu handeln, die Familiengeschichte wurde bis in die nahe Vergangenheit weitererzählt. Aber die Namen waren nicht mehr als oberflächlich verschlüsselt. Martha war Maria, Hella war Herta und Judith selbst, da gab es keinen Zweifel, war Julia Voss.
Das Manuskript bestand aus einzelnen Szenen, die nur teilweise ausgearbeitet waren. In den Notizen konnte Judith Vorstufen erkennen, manchmal aber auch neue Entwürfe, Dialoge in Stichworten.
»Herta im Bahnhof«, stand in der hastigen Schrift ihres Vaters am Ende der Szene, die sie gerade gelesen hatte. »Grossmann sieht sie nicht.« Einige Sätze waren durchgestrichen. Dann: »Herta sehnt sich nach Rettung.«
Judith überlegte, was sie davon halten sollte. Hatte Hella wirklich etwas mit Gellmann gehabt? Die Frau, die ihren Mann so sehr liebte, dass sie noch fünfzehn Jahre nach seinem Tod keinen anderen gelten lieÃ? Hella, die Vahlen für Judiths Geschmack zu vieles verziehen hatte. Die trotz aller Stärke so empfindlich war und noch immer unter dem Selbstmord ihrer Mutter litt. Judith wollte es nicht glauben. Gellmann war ein netter Kerl. Lustig und klug. Aber sicher war die ganze Geschichte nur Spiel. Peter Vahlen hatte seine Ãngste und Phantasien im Romanmanuskript aufgebracht, um sie für seine Familie unschädlich zu machen.
Einmal, ganz am Anfang ihrer Ãbersetzungsarbeit, hatte Judith mit ihrem Vater über Gellmanns Stück Finger gesessen. Es war einer der wenigen Momente, in denen sie das Gefühl gehabt hatte, Vahlen nahe zu sein. Zum ersten Mal behandelte er sie wie eine Erwachsene. Sie verglichen die schwierigen Textstellen, diskutierten jeden ihrer Vorschläge. Oft ging es dabei um die Motivation einer der weiblichen Figuren, die Judith überzogen schien. Sie verstand nicht, welches Interesse die Frau daran haben konnte, ständig die Männer zu hintergehen und zu belügen.
»Das ist in Gellmanns Kopf«, hatte ihr Vater gesagt. »Du kennst ihn doch. Er will die Frauen besitzen, weil er glaubt, sie auf diese Weise kontrollieren zu können. Aber er versteht sie nicht. Sie machen ihm Angst.«
»Du meinst, Gellmann hält Frauen für heimtückisch und verlogen?«
»Nein, so einfach ist es nicht. Er liebt sie ja, die Frauen. Aberwenn er diese Zicke hier auftreten lässt, dann ist das wie ein Bannspruch. Er schreibt ihr alle Eigenschaften zu, die er an
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