Schlechte Gesellschaft
Frauen fürchtet, und am Ende hat er weniger Angst.«
Sie erinnerte sich noch genau, wie sie ihren Vater damals bewundert hatte. Er sah, was sonst keiner bemerkte. Er redete über Dinge, die sonst niemand aussprach. Und er traute den Worten Macht zu, als wäre es selbstverständlich.
Judith hatte sich immer gewünscht, schreiben zu können. Sie hatte es mehrfach versucht, hatte sich schon als Kind Geschichten ausgedacht von Indianern, Tieren, Raumschiffen, Königen. Ãber ihre Fabeln hatte ihr Vater gelacht. Die Gedichte zeigte sie ihm gar nicht erst.
Von Anfang an war sie sich bewusst gewesen, wie ungewöhnlich es war, dass ihr ein so wichtiger Text wie Finger als erste Ãbersetzungsarbeit anvertraut wurde. Der amerikanische Verlag war zunächst dagegen gewesen, aber Gellmann und Vahlen hatten sich für sie eingesetzt. Am Ende hatte der Lektor kaum Einwände gegen ihr Manuskript gehabt. Es war ja auch in enger Zusammenarbeit mit dem Autor entstanden.
Trotzdem hatte Judith manchmal das Gefühl, ihr Vater wäre enttäuscht von ihr. Sie war ihm nicht klug, nicht gewissenhaft genug. Sie las, aber nicht dieselben Bücher wie er. Er unterhielt sich gerne über »den Fortschritt«, »die Gesellschaft«, »die Zeit«, während sie die täglichen Nachrichten mehr beschäftigten. Nur selten konnten sie über Politik sprechen, über Kunst oder Bücher, ohne sich am Ende zu streiten.
Einmal hatte Vahlen ihr bei einer dieser Diskussionen sogar vorgeworfen, nicht weiter als bis zu ihrer hübschen Nasenspitze zu sehen. Hella hatte ihn zurechtgewiesen. Dafür, dass ihre Tochter eine »hübsche« Nasenspitze habe, könne sie ja wohl nichts. Judith war sofort klar gewesen, worum es eigentlich ging. Hellas Eingreifen erinnerte sie an die hastig überspielte Ungeduld, mit der sie ihr schon immer begegnet war. »Ich helfe dir schnell«, sagte sie oft, weil es zu lange dauerte, wenn Judith es allein versuchte. Ihr Vater dagegenhatte nie solche Andeutungen gemacht, nie, solange sie denken konnte, hatte er auch nur ein Wort über die Hand verloren. Aber Judith war sicher, es war ihm nicht gleichgültig, dass seine Tochter, ausgerechnet die einzige Tochter des von allen so bewunderten Peter Vahlen, eine missgebildete Hand hatte.
Oft wünschte sich Judith, ihr Vater hätte Alexia kennengelernt. Sie glaubte, er hätte sie gemocht. Ihre Tochter war so viel gelassener und auf so viel natürlichere Weise intelligent als sie. Alexia las jetzt schon Bücher, an die Judith sich nicht herantraute. Sie spielte Schach wie Vahlen und war im Internat eine der Besten. Sie gewann sogar Reitturniere. Für die kleinen Unsicherheiten und Probleme, die das Mädchen hatte, gab Judith sich selbst die Schuld. Sie war damals nicht bereit gewesen für ein Kind, so sehr sie auch vor anderen darauf bestanden hatte. Früh hatte sie begonnen Alexia abzugeben. Und sie wusste noch, wie sie, als sie ihre Tochter zum ersten Mal ins Internat brachte, auf dem Rückweg gehofft hatte, das Gröbste nun hinter sich zu haben.
Ob es ihrem Vater mit ihr ähnlich ergangen war? Was wusste sie schon über Peter Vahlen, über seine Befürchtungen, seine Wünsche, seine Pläne? Für sie war er immer nur ihr Vater gewesen, eine ruhige, überlegene Gestalt, hoch angesehen unter Künstlern, Journalisten, Politikern und auch im Dorf. Ein Mann, mit dem viele Menschen etwas verband. Bei den Frauen, das hatte sie inzwischen begriffen, war es meistens eine Hoffnung auf mehr gewesen.
Judith konnte selbst nicht verstehen, warum sie nie auf den Dachboden gegangen war. Da musste erst ein Fremder kommen, ein hübscher Doktorand aus Duisburg, und sie bei der Hand nehmen. Wieder zwang sie sich weiterzulesen, aber schon bald merkte sie, wie sie denselben Satz zum dritten Mal las. Sie liebte Vahlens Gedichte, seine Sprache, die ihr so vertraut war. Und doch konnte sie seine Bücher nie wirklich genieÃen. Jedes Mal, wenn sie einen Text von ihrem Vater vor sich hatte, musste Judith nach einem Hinweis suchen, der ihr etwas über ihn, über die Mutter oder über sich selbst verraten könnte.
An manchen Tagen fühlte sie sich durch seinen Tod betrogen, meinte, wenn er noch lebendig gewesen wäre, hätte sie ein wichtigeres Leben führen können. Ein Leben ohne die groÃen Fehler, die Abhängigkeiten von ihrer Mutter und immer wieder, das musste sie
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