Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Schlechte Gesellschaft

Titel: Schlechte Gesellschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Born
Vom Netzwerk:
Munitionsbüchsen, sortierten Schrauben oder kümmerten sich wie Martha um die Küche der Arbeiter.
    Die Felder lagen größtenteils brach. Zugtiere und Karren waren für die Front beschlagnahmt worden. Überall hungerten die Menschen, und fast täglich fielen Horden von Städtern in den unteren Westerwald ein, durchkämmten die Wälder nach Beeren und Pilzen, stahlen Kartoffeln und Rüben von den Äckern, Äpfel und Nüsse aus den Gärten. Die Bauern Brink und Gehrke empfingen auf ihren Höfen die feineren Herrschaften, die unter der Hand Speck, Würste, und Eier kauften. Für eine Schweinehälfte zahlten die Städter den Preis eines ganzen Ochsen. Mit Schnapsflaschen, Kartoffelsäcken und Speckseiten beladen, brausten sie nach abgeschlossenem Geschäft in ihren eleganten Wagen wieder ab.
    Die Vahlen-Witwen dagegen zogen bald ihr letztes Kaninchen aus dem Schlag. Martha brachte von der Großküche Gemüseabfälle mit, die sie spätabends zu dünnen Suppen verkochte. Jede Nacht fürchtete Kläre, die Kuh könnte ihnen aus dem Stall gestohlen werden. Allein Hermanns Anwesenheit in Sehlscheid bedeutete für sie noch eine Sicherheit.
    Als Rudolf im Oktober 1916 unversehrt aus Flandern zurückkehrte, um bei Nesselhahn die Walze zu bedienen, schien es ihnen, als wäre der Krieg so gut wie vorbei. Die alte Vahlen erteilte ihm Anweisungen, wie er nach Feierabend das Feld zu wässern, die Rübenzu lagern und die Scheune zu reparieren habe. Man sprach davon, im Frühjahr auf der Hüh zu bauen, um mehr Platz für ihn zu schaffen. Und die kleine Martha, die Rudolf gar nicht mehr dick oder hässlich vorkam, warf sich ihrem Bruder in die Arme und sagte, er dürfe sie nie wieder verlassen.
    Aber auf seine Mutter Kläre machte Rudolf, anders als Hermann, den nicht einmal das Geschimpfe der Großmutter aus der Fassung brachte, einen unsicheren und ängstlichen Eindruck. Noch immer sprach Rudolf schnell und gewandt und zupfte an allem, was einen Rock trug. Aber sein Blick huschte dabei nervös hin und her. Seine Wangen wirkten fahl. Und während Martha und die anderen auf ihn einredeten, seinen kräftigen Körper, das lange Haar, die Schrammen und Narben bewunderten, die vorbeirasende Granaten auf seiner Haut hinterlassen hatten, sah auch Hermann den Bruder von Zeit zu Zeit die Augen zusammenkneifen, als würde er auf etwas lauschen – auf ein entferntes, nie enden wollendes Gebrüll.
    Bald war klar, dass der Krieg keinesfalls zu Ende war. Die Produktion bei Fockenbach lief auf Hochtouren. Immer mehr Kriegsinvaliden wurden eingestellt, um die Walzen zu betätigen, dagegen rief man noch die ältesten und jüngsten unter den Männer an die Front. Auch Rudolf Vahlen, das war gewiss, würde wieder gehen müssen.
    Martha versuchte ihren Bruder zum Desertieren zu überreden. Er könnte vorgeben, verrückt geworden zu sein wie der ältere Runkel-Sohn, der als Kriegszitterer aus den Ardennen zurückgekehrt war. Oder er würde sich in den Schiefermienen im Wald verstecken, bis alles vorbei war. Zuerst hatte Rudolf tatsächlich überlegt, nicht wieder fortzugehen. Doch schließlich zog er noch vor der Zeit und freiwillig zurück an die Front. Der Grund für seine Flucht in den Krieg war, wie alles, was Rudolfs Leben jemals bewegt hatte, ein Mädchen.
    Lisbeth Gehrke war die Schwester von Hermanns Frau Emmy. Sie hatte sich von der kaum jüngeren Martha bei den Schulaufgabenhelfen lassen, und seit kurzem vertrauten sich die beiden Mädchen ihre Träume und Geheimnisse an. Als Lisbeth den Bruder ihrer besten Freundin an jenem Oktobermorgen seiner Rückkehr von der Front die Dorfstraße in Richtung Hüh heraufkommen sah, hatte sie ohne nachzudenken den noch warmen Butterzopf aus der Backstube ihrer Mutter gegriffen und war ihm entgegengelaufen.
    Auch Rudolf hatte nicht lange gezögert. Lisbeth war vierzehn Jahre alt. Die Zöpfe trug sie in Schnecken an den Hinterkopf gesteckt. Ihre schönen Hände, mit denen sie die Schrauben im Lager bei Fockenbach aushändigte, ihr schneller Schritt beim abendlichen Heimweg, ihr lachender Gruß, wenn sie morgens in der Hohl auf die anderen traf, gefielen Rudolf. Und ihre Brüste formten unter dem Kittel zwei feste Kugeln, an die er während seiner Arbeit an der Eisenwalze immer öfter denken musste.
    Rudolf wollte Lisbeth heiraten.

Weitere Kostenlose Bücher