Schlechte Gesellschaft
bereits vor Monaten gefallen war. Die Frau des Gemeindevorstehers Linde, die frühmorgens mit der Neuigkeit aus den Listen des Kriegsministeriums in die Backstube der Gehrkes geeilt kam, erfuhr auch als erste im Dorf die Wahrheit über Lisbeths rätselhafte Empfängnis. Hermanns Frau Emmy begann gleich zu weinen, als sie vom Tod ihres Schwagers erfuhr. Die hochschwangere Lisbeth aber sackte ohnmächtig auf den Boden. Sofort stürzten die Schwester und die Frau Gemeindevorsteher auf sie zu, um ihr aufzuhelfen. Und endlich hörten sie das Mädchen, das auf Nachfragen bisher immer nur mit Schulterzucken oder stummen Tränen geantwortet hatte, den Namen seines Geliebten flüstern, der es so schändlich allein gelassen hatte.
Keine drei Wochen nachdem die Nachricht von Rudolfs Tod sie erreicht hatte, brachte Lisbeth im Mai einen Jungen zur Welt. Die Hebamme, die Bäuerin Gehrke, Emmy und die Witwe Kläre beeilten sich, das Kind in saubere Tücher zu wickeln und es der jungen Mutter an die Brust zu legen. Lisbeths Leib hörte nicht auf zu bluten.Es schien, als habe das Mädchen mit der Hoffnung auf Rudolfs Rückkehr auch den Willen zum eigenen Leben verloren. Wenige Stunden nach der Geburt starb sie mit einem leisen Schrei, der von dem ihres neugeborenen Sohnes Heinrich noch übertönt wurde.
Vor dem Winter 1917 nahm das Dorf in einer vom preuÃischen Ministerium beorderten patriotischen Aktion drei Dutzend unterernährte Kinder aus Koblenz und Köln auf. Die meisten der »Hungermäuler« kamen beim Gemeindevorsteher Linde, beim Pastor, in der Schulstube und auf den Höfen der Brinks und Gehrkes unter. Aber auch zu den beiden Witwen auf der Hüh brachte man ein vierjähriges Mädchen und ihren kleinen Bruder, der gerade erst das Laufen lernte. Hans Gisbert und Doris Kind hieÃen die beiden laut eines Zettels, den sie um den Hals trugen. Und das Vaterland wäre den Gastgebern dankbar, wenn die Kinder bis auf weiteres in ihrem Haus zu Kräften kommen dürften.
Doris weinte in den ersten Tagen viel. Aber sie lernte schnell, an der Seite der Vahlen-Frauen die Kaninchen und Ziegen zu füttern, Morbeln zu sammeln und Bucheckern mit Kartoffeln zu verstampfen, so dass alle davon satt wurden. Sie war ein tüchtiges, freundliches Mädchen und bald verschwand auch die städtische Blässe aus ihrem Gesicht.
Niemand wunderte sich, dass Doris nur wenig mit ihrem Bruder zu tun haben wollte. Ausgehungert und von den Eltern weggeschickt, hatten die Geschwister Kind eben früh gelernt, zuerst an sich selbst zu denken, sagte man sich. Hagis, wie man den Jungen der Einfachheit halber nannte, zeigte von Anfang an keinerlei Anzeichen von Heimweh. Er nahm die Freundlichkeit der Witwe Kläre und die Schimpferei der Alten Vahlen wie selbstverständlich hin. Statt an seine Schwester Doris hielt er sich vor allem an Martha, auf deren Schoà er saÃ, als würde er ihm gehören. Der kränkliche Heinrich, den die Vahlen-Witwen nach Lisbeths Tod zu sich genommen hatten, wurde sein bester Freund.
Heinrich hatte das greisenhafte Aussehen eines Neugeborenen nie abgelegt. Im Dorf hieà es, er habe »im Bauch seiner Mutter einBein verloren«. Nur mühsam konnte er sich mit Hilfe seiner Arme und des schwachen rechten Beins am Boden vorwärts schleppen. Während das wenig ältere Hungermaul den ganzen Tag plapperte, sang oder tanzte, blieb Rudolfs und Lisbeths Sohn stumm. Hagis setzte den Freund in ein kleines Wägelchen, das er auf seinen unermüdlichen Wegen zwischen dem Hühnerstall und dem Ziegenverschlag, zwischen dem Apfelgarten und dem Rübenfeld hinter sich herzog.
Im November 1918 dankte in Berlin der Kaiser ab, der als preuÃischer König dem Gesetz nach auch in Sehlscheid regierte. Der Krieg war beendet. Letzte Meldungen von Gefallenen erreichten das Dorf. Nachrichten Ãberlebender trafen verzögert aus der Kriegsgefangenschaft ein. Und wer vergeblich wartete, fühlte sich zurückgelassener als zuvor.
Dann wurde eines Tages bekanntgegeben, dass die neue Republik gegründet war. Kopfschüttelnd diskutierte man in der Gastwirtschaft die Niederlage und dass nun auch den Frauen das Wahlrecht zugesprochen wurde. Hermann Vahlen schimpfte laut über den schlechten Frieden, der in Frankreich zustande gekommen war, und über die Demokraten, die das Reich auf dem Gewissen hätten. Aber in Sehlscheid, da waren sich die
Weitere Kostenlose Bücher