Schlechte Gesellschaft
dazu zwingen, einige der Figuren auszuarbeiten. So verbrachte er den Morgen damit, Briefe zu beantworten, viel zu ausführlich, viel zu freundlich, weil er dabei nicht nachdenken musste.
Es waren Schreiben von Kollegen, Verlagen, Radiosendern und Akademien. Organisatoren planten Veranstaltungen, Herausgeber Anthologien. Und immer wieder schrieben ihm junge Autoren. Sie erinnerten ihn auf unangenehme Weise daran, dass er nicht mehr dazugehörte, dass er fünfzehn Jahre, nachdem er selbst zu schreiben begonnen hatte, zur anderen Seite gehörte, zu denen, die entschieden, was Literatur ist und was nicht.
Es war nicht Vahlens Art, sich wie Gellmann vor jedem ersten Satz zu betrinken. Mit Aufsätzen, Briefen und kurzen Reisen hielt er sich so lange auf, bis in seinem Kopf wieder Platz war für die neue Geschichte. Seine Stimmung musste etwas Bescheidenes haben, dachte er, weit entfernt von einem wie auch immer gearteten Rausch.
Er hob den Kopf, um aus dem Fenster zu blicken. Durch das Grau der Wolken fiel in hellen Streifen das Licht. Von Tag zu Tag wurde das Grün der Felder kräftiger. Weiter weg waren die Talwiesen mit Lerchensporn lila und weià überzogen. Sie hatten Schafe angeschafft â ein Paar scheue Heidschnucken. Einmal, als er sich ihnen auf der Weide nähern wollte, hatte sich eins der Tiere bei der Flucht am Zaun verletzt. Jetzt zogen sie ruhig grasend am Bach entlang.
Er wandte sich wieder den Briefen zu. »Ich mag, was du schreibst«, tippte er in die Maschine und verachtete sich im selben Moment für seine Verlogenheit. »Aber du musst noch an dir arbeiten.« Als wäre es so einfach. Dabei wusste er genau, dass diese Frau sich noch so abmühen konnte. Ihr Text hatte Vahlen schon nach zwei Absätzen gelangweilt, so wie sie selbst ihn neulich im Bett gelangweilt hatte, mit ihrer abwartenden, hingebungsvollen Art. Vahlen wusste, dass sie nie über eine erste, bestenfalls mittelmäÃige Publikation hinauskommen würde, selbst wenn sie mit sämtlichen Verlegern und Kritikern der Republik schlief.
Es war leicht, die Schwächen der anderen zu erkennen. Er selbst war lange nicht über Erzählungen hinausgekommen. Er wusste nicht einmal, ob er den neuen Roman jemals zu einem Ende bringen würde.
Seinen Traum, ein perfektes Buch zu schreiben, hatte Vahlen schon während der Arbeit an Westerwald aufgegeben. Ohne Hella hätte er das Buch nie beendet. Wenn er nicht weiterwusste, hatte sie ihn beiseitegeschoben und zu lesen begonnen. Er saà an seinem Schreibtisch, während sie mit ihrem damals so eindrucksvollen Bauch auf und ab ging und über den Text sprach. Fast alles, was sie sagte, war richtig.
Plötzlich war es ganz einfach erschienen, als brauchte er nur noch aufzuschreiben, was längst in ihm bereit lag. Gemeinsam arbeiteten sie an den Anfängen der Geschichte, die Figuren wurden zu ihrer Familie, die Umgebung, in der sie spielte, wurde zu ihrer Heimat, und zur selben Zeit setzte sich ihre eigene Geschichte mit Hellas Schwangerschaft auf wunderbare Weise fort.
Die Kritik hatte Westerwald gelobt. Niemand stellte je in Frage, dass die Familie Krieger erfunden war. Natürlich fühlte sich in Sehlscheid jeder von Vahlens Roman angesprochen. Gleichzeitig waren sich die Leute einig, dass alles nur ausgedacht war und mit dem wahren Leben im Dorf nichts gemein hatte. Für Vahlen war es dagegen bald, als erzählte das Buch die einzig mögliche Geschichte, und alles andere wäre nur unzuverlässige Erinnerung.
Nach dem Durchbruch mit Westerwald hatte er eine Zeitlang das Gefühl gehabt, alles erreichen zu können. Judiths Behinderung, die Schwierigkeiten mit Hella und seine eigene Beklemmung darüber hatten Vahlens Sprache roher und tiefgründiger werden lassen. Nur selten gestand er sich ein, dass er für das Schreiben von seinen Ãngsten zu profitieren glaubte.
Vahlen gefiel die Vorstellung von Reife. Er verstand jetzt die Maler, die ihr Leben damit zubrachten, immer wieder ein einzelnes Motiv zu verarbeiten, in der Hoffnung, zur Perfektion zu gelangen. Je gröÃer der Raum, den das Motiv in ihrem Werk einnahm, desto weniger wichtig wurde es tatsächlich. Mit der Wiederholung rückte die Ausführung in den Vordergrund, die Farben, das Licht, die Abstraktion. Und Vahlen bekam Lust, auch für seine Familienchronik einen neuen Ansatz zu finden. Er wollte sehen, was passieren würde, wenn er sich
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