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Schlechte Gesellschaft

Titel: Schlechte Gesellschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Born
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selbst beim Schreiben näher kam. Wenn er seine Geschichte noch einmal erzählte, so dachte er lange, dann müsste der »Fehler«, wenn es tatsächlich einen geben sollte, zum Vorschein kommen.
    Hella war nur noch selten einer Meinung mit ihm. Und als er ihr sagte, er wolle ihre Geschichte weiterschreiben, anders und dichter an der Wirklichkeit, war sie wütend geworden. Ob ihm das Gerede im Dorf noch nicht reiche, hatte sie gefragt. Es gebe Dinge, die sie nicht über sich lesen wollte, schon gar nicht in seinen Büchern. Er war sicher, sie dachte dabei an den Selbstmord ihrer Mutter.
    Trotzdem hatte er angefangen zu recherchieren, hatte geglaubt, mehr über die Familie herausfinden zu müssen, bevor er mit demSchreiben beginnen könnte. Monatelang hatte er Nesselhahns Tagebücher, Briefe und Akten auf dem Dachboden durchgesehen. Er hatte mit Hilde gesprochen, mit seinen Brüdern und mit dem alten Förster Ranke. Er las alles, was je über seinen Vater publiziert worden war. Aber außer einiger schöner Bilder, Namen, Orte und Bezeichnungen für vor langer Zeit vergessene Dinge hatte er nichts gefunden.
    Vielleicht stimmte, was der alte Verleger Nesselhahn in seinen Aufzeichnungen befürchtete. Vielleicht war Hella tatsächlich nicht seine Tochter. Vielleicht war auch Vahlen nicht Hagis’ leiblicher Sohn, wie es sein ältester Bruder immer behauptete. Wahrscheinlicher schien es ihm, dass all das eben nur Gerede war. Hellas Vater war ein Nazi und sein Vater war ein Jude. Und beide hatten sie Hellas Mutter auf unerfüllte Weise geliebt.
    Als er wieder aus dem Fenster schaute, fand er die Knospen der Mirabellen vielversprechend. Zu Winteranfang hatte er die Triebe mit Hilfe des Mannes aus dem Gärtnereibetrieb bei eisiger Kälte auf Pflaumenbäume gepfropft, Vogelkirschen auf die Kirschbäume, damit die Stare beschäftigt wären. Später würde er hinausgehen, um danach zu sehen. Er hoffte in diesem Jahr auf eine gute Ernte. Eine, wie es sie in seiner Kindheit gegeben hatte.
    Hella und er stammten beide aus Sehlscheid. Sie teilten einen Namen, der ihre Geschichte an verschiedenen Punkten der Vergangenheit miteinander verband. Schon dieser Umstand war schwer zu ertragen für zwei einzelne Menschen. Und gleichzeitig, meinte Vahlen, sah es von außen aus wie eine Fügung, eine vollkommene Rundung, wie sie in der Kunst sofort artifiziell wirken musste.
    Er wollte diesen Roman noch immer schreiben. Aber es schien ihm nun wie ein schwierigeres Unterfangen. Seine früheren Ängste waren ihm fremd geworden. Judith war inzwischen zu einem eigensinnigen kleinen Mädchen herangewachsen. Er sprach mit Hella nie darüber, aber sie wussten beide, dass ihre Tochter gelernt hatte, mit der Fehlbildung umzugehen.
    Auch sein Zusammenleben mit Hella hatte sich verändert.Manchmal glaubte er, mit seinen Überlegungen und Nachforschungen zu weit gegangen zu sein, zu nah an ihr Geheimnis herangekommen zu sein. Als habe er in seinem tollpatschigen Versuch, eine vermeintliche Wahrheit über sich und Hella herauszufinden, alles Schöne und Besondere ihrer Liebe kaputt gemacht. Und dann wunderte Vahlen sich wieder, dass er überhaupt an die Möglichkeit von Geheimnissen in ihrem Leben glaubte.
    Er nahm noch ein Taschentuch und dann den Stapel Briefe, der neben dem Sofa lag. Er machte sich mit einem Bleistift Notizen an die Ränder, »beantwortet am«, »weiterverwiesen am«, »abgelehnt, weil«. Datum drauf, lochen, alphabetisch einordnen, abheften in den Jahresordner 81, fertig.
Duisburg III: Cliffhanger (Juni 2007)
    Hans Ullrich Kittel lutschte geräuschvoll an seinem Bonbon, während er ein Notizbuch nach dem anderen aus Wielands Karton hervorzog. Er überflog Landschaftsbeschreibungen, Dialoge, einzelne Szenen. Eindeutig handelte es sich um eine Fortführung von Westerwald . Aber diesmal konnten die Figuren, womöglich, weil sie noch unausgearbeitet waren, problemlos reellen Personen zugeordnet werden. Das Zögern der Witwe, dieses unfertige Manuskript zu veröffentlichen, war nicht unbegründet. Und auch Wielands Verwirrung erschien Kittel nun verständlicher.
    Natürlich könnte man das Fragment als Dokument des Schaffensprozesses oder als einen autobiographischen Versuch Peter Vahlens präsentieren. Aber das wirklich Spektakuläre an dem Material, das hatte Wieland richtig erkannt, waren die reellen Bezüge

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