Schlechte Gesellschaft
Fremde verdrehte die Augen. »Und wer bist du?«
»Ich bin seine Frau.«
»Das Schwein.«
Hella musste drohen, die Polizei zu rufen, damit die Fremde wieder ging.
Eigentlich hätten sie über die Geschichte lachen sollen, dachte Hella hinterher. Aber als sie zurück ins Haus getreten waren, hatte sie deutlich Judiths Wut gespürt.
Es gab nur noch selten Gespräche zwischen ihnen, die über das Alltägliche hinausgingen. Nach ihrer Rückkehr aus Amerika hatten sie sich gegen Judiths Wunsch erneut in Sehlscheid niedergelassen. Hella hatte sich darauf gefreut, in Arlich ihre Praxis zu eröffnen. Und auch Vahlen hätte das Haus nie aufgeben wollen. Aber Judith schien die Eltern für diese Entscheidung mit ihrer andauernden Teilnahmslosigkeit bestrafen zu wollen.
Hella musste noch immer daran denken, wie ihre Tochter sie angesehen hatte an dem Tag, als in Berlin die Mauer geöffnet wurde. Hella und Vahlen hatten die Nachricht im Radio gehört, ein Wirbel aufgeregter Stimmen voller ungewohntem Pathos und Euphorie. Sie hatten eine Flasche Wein geöffnet und, obwohl es nicht kalt war, das Kaminfeuer angemacht. Gemeinsam überlegten sie, wie es weitergehen würde. Während Hella fürchtete, es könnten Panzer anrollen, sagte Vahlen, die Russen hätten mit Glasnost und Perestroika genug im eigenen Land zu tun. Es war, als hätten sie tatsächlich mitzureden bei den groÃen Entscheidungen. Es fühlte sich an wie früher.
Dann hatten sie die Eingangstür zufallen hören und waren zusammengeschreckt. Judith blieb im Durchgang stehen. Sie blickte misstrauisch zu ihnen herüber.
»Was ist denn hier los?«
»WeiÃt du es noch nicht?«, fragte Hella.
»Weià ich was nicht?«
»Die Mauer ist auf.«
»Deshalb führt ihr euch so auf?«
Hella schämte sich plötzlich. Sie war angetrunken. Und auch die für sie ungewöhnliche Nähe zu Vahlen, die ihm zugewandte, fast zärtliche Haltung, erschien ihr jetzt unpassend.
»Fangt ihr auch schon an«, sagte Judith beinahe mitleidig. »In der Schule reden sie über nichts anderes.« Sie schaute ihre Mutter an. »Hast du etwa geweint?«
Hella hatte nie verstanden, warum Judith sich ihr gegenüber so gefühlskalt gab. Von klein auf hatte sie es abgelehnt, über ihren missgebildeten Arm zu sprechen. Es war, als seien durch den Versuch, das Fehlen ihrer Hand zu überspielen, ihre Empfindungen gleich mit verschwunden. Hella dachte daran, wie sie und Vahlen früher jeder Bewegung ihrer Tochter, jedem Wort und jedem Lachen wie einem groÃen Wunder nachgespürt hatten. Oft musste sie an das kleine Mädchen denken, das Judith gewesen war, als wäre sie nun eine andere Person.
Kaum ein DDR-Bürger war bis nach Sehlscheid gekommen. Drei oder vier Mal, hieà es, wäre ein Trabant auf der BundesstraÃe gesehen worden. Im Gasthof hatte jemand nach der Adresse der Knopffabrik Hingst gefragt, die es schon seit dreiÃig Jahren nicht mehr gab. Dann spielte sich alles wieder nur im Fernsehen ab. Und Judith schien zufrieden, dass sie das Thema wechselten.
Sie hatte ihr Abitur bestanden. Aber nachdem die New Yorker Universität, die sie sich für ihr Studium ausgesucht hatte, ihre Bewerbung abgelehnt hatte, schien sie sich nicht auf andere Pläne einlassen zu wollen. Erst als Vahlen und Gellmann bei einem ihrer selten gewordenen Treffen in Frankfurt entschieden, Judith könne bei der Ãbersetzung von Gellmanns Stücken ins Englische helfen, wirkte sie auf einmal weniger verschlossen. Oft hatte sie gesagt, sie wolle Ãbersetzerin werden. Aber Hella überraschte es, dass Vahlen diesen Berufswunsch ernst genommen hatte.
Bei ihrer Rückkehr von einem ersten Arbeitstreffen hatte Judith sich mit betonter Erschöpfung in den Sessel vor dem Bücherregal fallen lassen. Hella glaubte, sie würde erzählen, was sie im Verlag erlebt hatte. Aber dann erhob Judith sich doch wieder, ging über den Flur in die Küche, und Hella hätte ihr folgen müssen, um noch etwas zu erfahren.
Am Morgen regte Hella sich Vahlen gegenüber auf, Judith sei zu jung, um Verständnis für Gellmanns Texte zu haben. Sie müsse erst Erfahrungen sammeln.
»Erfahrung ist nicht alles«, hatte Vahlen geantwortet. »Sie soll ja nicht allein übersetzen. Sie macht die Vorarbeit und die Kollegen in New York schauen sich die Feinheiten an. Es ist
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