Schlechte Gesellschaft
wegen des Manuskripts unter Druck setzen«, sagte Kittel, »dann bringen Sie es doch zu mir. Am Lehrstuhl ist es sicher.« Der Professor bemühte sich kaum, seine Erregung zu verbergen. Krachend zerkaute er den Bonbon. AuÃerdem hatte er Judith bei ihrem Vornamen genannt. Wieland lieà sich nicht mehr täuschen.
»Ich kann Ihnen das Manuskript nicht überlassen«, sagte Wieland schnell. »Hella Vahlen hat es wieder an sich genommen.«
Noch bevor der Professor etwas entgegnen konnte, hatte Wieland aufgelegt.
Dass Judith mit Kittel tatsächlich sozusagen »unter einer Decke steckte«, war für ihn ein schlimmer Schlag. Aber Wieland wollte diese Vorstellung lieber nicht zulassen. Seit Judith ihn verlassen hatte, fühlte er sich instabil.
Als er damals den Zusammenbruch erlitt, kurz vor dem Abitur, war es ähnlich gewesen. Wochenlang hatte er kaum geschlafen. Zuerst war die Angst gekommen, dann die fixe Idee, jemand wäre hinter ihm her. Mehrfach benachrichtigte eine der Lehrerinnen seine Mutter, aber noch bevor diese reagieren konnte, musste eines Morgens der sozialmedizinische Dienst gerufen werden. Wieland hatte sich im Klassenzimmer verbarrikadiert. Die Lehrerin sperrte er in einen Schrank. Er erinnerte sich noch heute an sein Hochgefühl, als die vor der Tür gestapelten Tische und Stühle dem Drücken und StoÃen der Sanitäter minutenlang nicht nachgaben.
Der Himmel über der Gleisböschung war von mattschwarzenKabeln durchschnitten. Wieland schloss die Augen, und die in Streifen geteilte Landschaft aus Farben, Texturen, verschwommenen Lichtern zog noch eine Weile in seinen Gedanken an ihm vorbei. Als er aufwachte, rollte der Zug bereits über die Rheinbrücke. Sofort hatte er Lust bekommen, in Köln noch einmal auszusteigen.
Kurz hinter dem Wallraffplatz ergoss sich das Getümmel über den Domplatz. Verstreute, meist asiatische Reisegruppen kommentierten die Auslagen der Souvenirläden. Vor dem Museum polterten Skateboard fahrende Jugendliche auf Betonbahnen herum. Ãber allem hing die dunkle Kulisse des Doms. Figuren mit schmalen Gesichtern hockten, in Serie um die Portale drapiert, zwischen den geschwärzten Falten der Fassade.
Wieland wunderte sich über zwei Mädchen in bunten Strumpfhosen, die, mit Einkaufstüten und Fransentaschen behängt, in den Eingang des Kirchenbaus bogen. Von hinten schob ihn jemand ungeduldig zur Seite. Er wusste nicht, ob er links oder rechts herum zum Bahnhof gehen sollte. So folgte er kurzerhand den Mädchen durch die Glasschiebetür.
Die Orgelmusik wurde lauter, als er durch den Vorraum in das Langschiff gelangte, das wie eine zweite Stadt erfüllt war von Gehenden, von einem seltsam stillen Treiben im fallenden Tageslicht.
Auf einem in Plastikfolie angebrachten Hinweisschild stand geschrieben: »Glaubensfragen. Sprechen Sie mit uns. Wir sind für Sie da.« Und tatsächlich war vor einer der Kapellen ein Tisch mit zwei Stühlen aufgebaut. Wieland bekam Lust, jemandem, den er nicht kannte und den er auch nie wiedersehen würde, seine Geschichte zu erzählen. Er wünschte sich einen zurückhaltenden, jungen Mann als Gegenüber, einen wie er es früher gewesen war.
Die Menschen strömten in kleinen Gruppen in Richtung des Chors, verschwanden hinter den Säulen und tauchten in den Seitenkapellen wieder auf. Wieland sah einen Mann niederknien. Die Musik die nun aufgebracht, fast unbändig tönte, hüllte ihn ein. Die herrische Schönheit des Augenblicks, der Wunsch so vieler, bewegt zu werden, hatte auch ihn beinahe zu Tränen gerührt.
DrauÃen war es dunkel geworden. Er zog den Mantel enger um sich und sah auf die Uhr. Er musste zum Bahnhof, wenn er den Zug nach Duisburg bekommen wollte. Vielleicht könnte er vorher noch einen Kaffee trinken.
Vorabendserie (Nachkriegszeit 1991â1993)
Nur eine der Frauen war vor Jahren einmal spätabends bis nach Sehlscheid gekommen. Sie war mit dem Auto vorgefahren, hatte im Dunkeln ein Rosenbeet überrollt und beinahe auch den Hund. Als Hella herunterkam, hatte Judith die Tür bereits geöffnet. Im Licht der kleinen Laterne stand eine auffällig groÃe Frau.
»Das Schwein«, sagte die Fremde, die offenbar betrunken war.
»Wie bitte?«, fragte Judith.
Hella schob ihre Tochter beiseite. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Ich muss zu Vahlen.«
»Er ist nicht da«, sagte Hella.
Die
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