Schlechte Gesellschaft
die Treppe herauf. »Dann wäre das also auch erledigt«, sagte er. »Wie hast du das gemacht?«
Hermann wollte etwas sagen, wusste nur nicht was. Kehl war älter, vielleicht auch klüger als er. Und Wolf konnte ihm doch etwas erzählt haben.
»Was habe ich gemacht?«
»Wie hast du den Juden dazu gebracht zu springen? Oder hast du nachgeholfen?«
»Was soll das, Kehl?« Hermann versuchte streng zu wirken.
»Er hat mir gesagt, dass er dich erpressen wollte. Dachte wohl, mit mir könnte er es genauso machen. Aber keine Sorge, ich lasse mich auf solche Judereien nicht ein.«
Hermann schwieg, und Kehl lachte sein künstliches Lachen.
»Du weiÃt, dass mir euer Hungermaul noch nie gefallen hat«, sagte er. »Aber auf die Idee, dass dein Neffe ein Jude sein könnte,bin ich nicht gekommen. Hätte ihm ja sonst meine Ilse nicht überlassen.« Kehl spuckte aus.
»Eigentlich ist es offensichtlich. Die Nase, die Ohren, Heinrich â ich meine Hagis â trägt die typischen Merkmale. Er verschwindet ins Ausland, und Ilse kann sehen, wie sie die Kinder satt kriegt. Rassenschändung nennt man das wohl.«
Hermann schmerzte der Schädel. Er hatte Kehl noch nie so viel auf einmal reden hören. Er wusste, dass es wichtig war, was er sagte, für Hagis und für ihn selbst. Womöglich hatten noch mehr Menschen von Hagisâ Herkunft erfahren. Trotzdem fiel es Hermann schwer zuzuhören. Er wünschte sich Zeit, um zu begreifen, was vor sich ging. Und es gelang ihm nicht, den Blick von dem Toten in der Eingangshalle zu lösen.
»Wie dem auch sei«, sagte Kehl. »Du hast den Juden hier schon viel zu lange sein Unwesen treiben lassen, findest du nicht, Herr Vorsitzender?« Und Hermann war nicht sicher gewesen, ob es drohend oder versöhnlich klingen sollte und ob es um Wolf oder um Hagis ging.
Noch am selben Abend hatte er seinen Neffen, der noch immer in Sehlscheid zu Besuch war, zur Abreise gedrängt. Er hatte die schwangere Ilse und ihre kleinen Söhne zum Bahnhof in Arlich begleitet, um Hagis zu verabschieden. Als der Zug langsam anrollte und aus den Lautsprechern das Horst-Wessel-Lied erklang, hatten selbst die Kinder ohne zu zögern den Arm zum Hitlergruà erhoben. Nur Hagis hing schlaff lächelnd aus dem Fenster des Waggons und winkte mit beiden Händen zum Abschied.
Sofort hatte Hermann wieder an Kehls Worte denken müssen. Erst am Vortag hatten sie einen alten Bauern in Schutzhaft genommen, weil er den Hitlergruà verweigerte. Aber seinen Neffen lieà er nach London abreisen â mit diesem schiefen Grinsen, als kümmerte es den Jungen nicht, was man in Sehlscheid von ihm dachte, was aus der Familie wurde, aus seiner Frau Ilse und den Kindern.
Kehl würde eine Möglichkeit finden, sein Wissen über Hagis zuseinem Vorteil einzusetzen, das war Hermann sofort klar gewesen. Aber erst Monate später, als sein Schwager Richard bis in die Parteistube nach Sehlscheid gekommen war, um ihn zu sprechen, begann Hermann zu ahnen, was vor sich ging.
Nesselhahns Anzug, das gepflegte Haar und die Uhrenkette am Revers strahlten dieselbe Kultiviertheit aus, die Hermann schon früher an seinem Schwager beeindruckt hatte. Aber als er zu reden begann, erkannte er ihn kaum wieder.
»Wie du vielleicht weiÃt, lebt deine Schwester nun mit den Kindern in Köln«, sagte Nesselhahn.
Hermann hatte davon nichts gehört, aber die Nachricht überraschte ihn kaum. Seit ihrer Hochzeit hatte er seine Schwester selten zu Gesicht bekommen. Nur Emmy hatte von den Hausangestellten gehört, dass Martha unglücklich sei. Noch bis vor kurzem hatte er gemeint, es läge an seinem Schwager, der zu viel arbeitete und sie selten ausführte. Aber heute, da Hermann eine Art kummervolle Leere selbst ein vertrautes Gefühl geworden war, sah er Nesselhahn an, dass er Marthas Liebe schon seit längerer Zeit verloren hatte.
Angesichts seiner Niedergeschlagenheit wirkte Nesselhahns Anliegen wie ein Vorwand. Er beschwerte sich über Kehl. Der Mann schleiche mit den Hunden seit Monaten um sein Haus herum, sagte er, und blinzelte dabei mit den Augen. Trotz Marthas Fortgang â oder gerade deshalb? â schien es Nesselhahn ein Bedürfnis, Kehl loszuwerden.
Hermann hatte den Schwager vertröstet, so wie er sich selbst zu vertrösten pflegte, wenn er wieder einmal zweifelte an der Richtigkeit seiner Entscheidungen.
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