Schlechte Medizin: Ein Wutbuch (German Edition)
ankurbelten.Vielleicht auch weil die Kollegen meinten, dass Überdiagnostik und Übertherapie nicht schaden, außer dem Geldbeutel anderer. Ein fataler Irrtum. Solche schlechte Medizin, die ihren Patienten massenweise unnötige Untersuchungen verordnete, wurde durch das System leider nicht bestraft, sondern belohnt. Einige niedergelassene Ärzte, die ich damals als Medizinstudent kennenlernte, versuchten ihre Kollegen für dieses Problem zu sensibilisieren, verzweifelten jedoch fast angesichts deren Desinteresse.
So kam, was kommen musste, seit Anfang der 1990er Jahre wurde beginnend mit dem damaligen Gesundheitsminister Horst Seehofer eine gezielte Kostendämpfungspolitik eingeleitet. Heute regeln Budgets und Pauschalen die Abrechnungsmöglichkeiten der Ärzte. DerVorwurf, dadurch würde ein Anreiz gesetzt, Patienten Leistungen vorzuenthalten, weil der Arzt sie nicht mehr einzeln abrechnen kann, steht im Raum. Messungen der Häufigkeit von Arztbesuchen seit der Einführung von Pauschalen scheinen diesenVorwurf zunächst zu bestätigen.
So ging die Häufigkeit der Arztbesuche in der Gruppe derer mit den häufigsten Besuchen von 28,3Besuchen im Jahr 2003 auf 23,2Besuche 2006 zurück. Mit der Einführung der Praxisgebühr wird dies wenig zu tun haben, sie wird nur einmal im Quartal fällig, danach ist der Besuch beim Arzt kostenfrei.Vielmehr dürfte der Rückgang mit den Pauschalbeträgen inVerbindung stehen, die der Arzt inzwischen pro Patient bekommt, unabhängig davon, wie häufig er den Patienten einbestellt. Der Anreiz, einen Patienten sehr oft in die Praxis zu bitten, ist entfallen.
Ich halte diese Entwicklung nicht für ein Zeichen von schlechtererVersorgung, sondern im Gegenteil für ein Zeichen von Regulierung einer problematischen Übertherapie. Meine Einschätzung ist, dass viele Kollegen sich der Problematik einer Überdiagnostik und Übertherapie nicht bewusst sind, auch weil die Hochschulen diese eher fördern.Wenn es aber darum geht, eine lebenswichtige Untersuchung oderTherapie zu verordnen, werden sich die allermeisten Kollegen ihrem ärztlichen Eid verpflichtet fühlen und das Richtige veranlassen.
Wenn wir Ärzte uns über diese für uns ungünstige Entwicklung beklagen, dann müssen wir uns zuallererst eingestehen, dass wir uns dies selbst eingebrockt haben. Es ist eine der schwierigsten Aufgaben der Gesundheitspolitik, die rein ökonomisch begründete Ausweitung medizinischer Leistungen einzudämmen und entsprechende Reglementierungen zu finden.Weil aber nach einiger Zeit die Lücken von den Anbietern immer gefunden und ausgenutzt werden, haben wir inzwischen ein bürokratisches Monster herangezüchtet, das jeden Arzt, der nicht den ganzenTag mit Betriebswirtschaft verbringen will, verzweifeln lassen kann. Das fördert Frust und nimmt Energien, die besser der Behandlung zugute kämen.
Also scheint zu gelten, was ein bekannter Fachmann des britischen Gesundheitssystems auf die Frage, welchesVergütungssystem denn am geeignetsten sei, geantwortet hat: » Alle paar Jahre ein neues, damit es sich niemand darin bequem machen kann. «
Allerdings nicht um den Preis von noch mehr Bürokratie. Denn auf der Strecke bleiben sonst vor allem jene Kollegen, die ihren Beruf so verstehen, dass sie in erster Linie für die Patienten da sind. Nicht um als Abrechnungskönige maximalen Profit zu machen, und nicht um das System optimal zu melken, sondern weil sie ihren Beruf als Berufung sehen und für ihre Patienten die beste Behandlung suchen. Genau denjenigen, die, anstatt Abrechnungslücken aufzuspüren, ihre Zeit lieber einem Hausbesuch widmen undVerordnungen und Rezepte gewissenhaft ausstellen, wird die Arbeit in fast schon bösartigerWeise erschwert.
Doch unsere Standesvertretung, die KassenärztlicheVereinigung, und die Krankenkassen behandeln niedergelassene Ärzte immer mehr als Bittsteller. Ich kenne viele gute und redliche Ärzte, die einen alten Kombi fahren, keine Ferienhäuser besitzen, sich rund um die Uhr für ihre Patienten einsetzen und immer erschöpfter werden.Wachsende Reglementierung, sinkende Einnahmen, eine immer komplexere Medizinverwaltung– viele Kollegen sind mit ihrer Freude am Beruf am Ende angelangt und spielen mit dem Gedanken, ihre Praxis zu verkaufen. Nur gibt es keine Käufer mehr. Ganz besonders in ländlichen Gebieten, aber nicht nur da. Auch in Gemeinden, die zum Beispiel 20Kilometer von Heidelberg entfernt liegen, mit bester S-Bahn-Anbindung, finden alteingesessene
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