Schlehenherz
Obwohl ich wusste, dass es wahrscheinlich sinnlos war, griff ich zu meinem Handy. Es klingelte, dann knackte esin der Leitung: »Das ist die Mailbox von Vio. Wehe, du hinterlässt mir keine Nachricht! Ciao!«
Ich holte tief Luft: »Vio … Wenn du das hörst, melde dich. Wir machen uns alle voll Sorgen wegen dir, Mensch!«
Ich legte auf. Gleich darauf rief ich noch mal an und haspelte aufs Band: »Vio, ich bin’s noch mal. Egal, was gestern Abend war, bitte … ruf mich an, okay?«
Ich steckte das Handy mit steifen Fingern in meine Jackentasche. Meine Hände waren eiskalt, aber es war nicht nur wegen der Herbstluft – es war auch die lähmende Angst. Ein dumpfes Gefühl wühlte in meinem Bauch, eine Art Ahnung, dass Vio diesmal keinen bösen Scherz mit mir trieb, sondern dass ihr wirklich etwas passiert war.
3. Kapitel
Am Abend war Vio immer noch nicht aufgetaucht. Ihre Mutter hatte inzwischen die Polizei angerufen, doch bisher gab es keine Spur von ihr. Auch bei mir hatten die Beamten nachgefragt, aber ich konnte ihnen nur sagen, dass ich Vio auf der Schulparty zum letzten Mal gesehen hatte.
Ich lag die halbe Nacht wach, und als ich endlich in einen unruhigen Schlummer fiel, träumte ich, Vio säße auf unserem Hochsitz und ich stünde unten. Plötzlich fing das hölzerne Gerüst an zu schwanken und die Streben knackten bedrohlich.
»Hilf mir, Lila!«, schrie Vio, aber ich konnte nichts tun als auf den Hochsitz zu starren, der immer stärker schwankte. Ein Holzbein nach dem anderen splitterte, bis schließlich der ganze Hochsitz mit einem grässlichen Knacken zusammenbrach. Das Letzte, was ich sah, waren Vios angstvolle Augen … Schreiend wachte ich auf. Die Dämmerung kroch gerade durch mein Fenster. Heute war Montag, eine neue Schulwoche fing an, doch ich war mir sicher, dass Vio auch in der vergangenen Nacht nicht nach Hause gekommen war.
Wie betäubt machte ich mich auf den Schulweg. Das erste Mal, ohne bei Vio vorbeizugehen. Ich schaffte es noch über den Schulhof, aber als ich im Klassenzimmer Vios leeren Stuhl sah, fing ich an zu zittern und mir wurde schlecht. Wie festgenagelt stand ich im Raum und brachte es einfach nicht fertig, mich zu setzen. Es war, als würde Vios leerer Platz mich anschreien: »Du bist schuld!«
Plötzlich berührte mich jemand an der Schulter und ich zuckte zusammen. Als ich mich umdrehte, sah ich in dasMopsgesicht der Bio-Gärtner. »Geh nach Hause, Mädchen. Ich rede mit den anderen Lehrern«, sagte sie mitfühlend.
Es war das erste Mal, dass sie für einen Schüler ein nettes Wort fand. Das drang jedoch nur schwach in mein Bewusstsein, denn ich wollte tatsächlich nur weg.
Mit steifen Schritten stakste ich aus dem Klassenzimmer und spürte die neugierigen Blicke der anderen in meinem Rücken. Hatte Vios Verschwinden also schon die Runde gemacht? Klar, Vios Mutter hatte wahrscheinlich die halbe Klasse angerufen, ob Vio bei jemandem aufgetaucht war. Dachten sie jetzt etwa, ich wüsste etwas über Vios Verbleib? Hatten sie unseren Streit auf der Schulparty mitbekommen?
Bis Mitternacht hatte ich gestern versucht, Vio zu erreichen – vergeblich. Am liebsten hätte ich irgendwas zerschlagen, mit den Füßen gestampft oder einfach geschrien. Alles war besser als diese Hilflosigkeit, dieses Zum- Nichtstun-verdammt-Sein. Als ich mit unsicheren Fingern den Schlüssel aus meiner Tasche fummelte, öffnete meine Mutter die Tür. Erst jetzt fiel mir wieder ein, dass sie heute zu Hause geblieben war, weil Julius sich erkältet hatte und nicht in die KiTa konnte. Besorgt blickte sie mich an.
»Die Gärtner hat mich heimgeschickt«, sagte ich mit kleiner Stimme. »Ich bin ins Klassenzimmer und hab Vios Platz gesehen …« Weiter kam ich nicht, weil mir die Tränen aus den Augen stürzten.
Wortlos nahm sie mich in den Arm. »Schätzchen, sieh es mal so: Vio ist noch nicht so lange verschwunden. Vielleicht ist sie … nach Berlin getrampt. Oder bei einer Freundin untergekommen, von der sie dir nichts erzählt hat.«
Ich schniefte und nickte. Die Worte meiner Mutter hatten eine neue Hoffnung in mir geweckt: Paris. Vielleichthatte Vio ihr gesamtes Konto geplündert und war in den Zug zum Gare de l’Este gestiegen.
Am Nachmittag, ich blätterte zur Ablenkung in einem alten Bildband mit Schwarz-Weiß-Fotos von Paris und blieb gerade an dem Foto eines Straßencafés hängen, klingelte das Handy in meiner Schultasche. Ich hatte ganz vergessen es herauszunehmen und wühlte jetzt
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