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Schlehenherz

Schlehenherz

Titel: Schlehenherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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hektisch zwischen Mathebuch und Spanischvokabelheft. Als ich es herausfischte, sah ich auf dem Display die Buchstaben aufleuchten: »VIO CALLING«.
    Die Erleichterung in diesem Moment war so stark, dass meine Knie sich plötzlich wie Gummi anfühlten und mir vor Freude schwindelig wurde. Endlich. Vio war wieder da und sie war okay. Ich vergaß, was sie mir mit Till angetan hatte. Ich vergaß, dass ich zwei Tage lang nichts gegessen hatte vor lauter Angst um sie. Ich konnte gar nicht schnell genug auf »Anruf annehmen« drücken: »Vio, Mensch, wo warst du denn …«, schrie ich euphorisch in den Hörer, als eine Stimme mich unterbrach: »Elina, hier ist Viktorias Vater!«
    »Herr Neubauer«, stotterte ich überrumpelt, »was …?«
    Am anderen Ende der Leitung hörte ich einen tiefen Atemzug, ehe Vios Vater mit belegter Stimme sagte: »Ich habe deine vielen Anrufe auf Viktorias Handy gesehen. Sie hat es zu Hause liegen lassen. Ich rufe an, weil … also ich wollte, dass du es von mir erfährst. Man hat sie gefunden.«
    In diesem Augenblick war es, als hätte jemand den Vorhang in einem stockdunklen Zimmer zur Seite gerissen und alles wäre plötzlich so hell erleuchtet, dass man jedes Detail mit fast schmerzhafter Deutlichkeit sah. Und mir wurde klar, dass etwas Schreckliches passiert war. Noch ehe Vios Vater es aussprach: »Viktoria – sie ist … tot.«

    Die Vögel fliehen vor den herben Schlehen
    Die Falter bergen sich in Sturmes-Toben
    Sie funkeln wieder auf, so er verstoben
    Und wer hat jemals Blumen weinen sehen?
    (Stefan George)

    Das dumme Ding. Wieso musste sie so ein Theater machen? Im Chat hatten sie sich doch auch verstanden. Nur deswegen hatte er sich überhaupt getraut, ein Treffen vorzuschlagen. Es war das erste Mal, dass er sich aus der Anonymität des Netzes wagte. Bei dem anderen Mädchen hatte er sein Profil gelöscht, als er erfahren hatte, was er wissen wollte. Wo sie zum Klavierunterricht ging und wann. Und dass sie dorthin mit dem Rad fuhr. Bei ihr aber sollte alles anders werden. Weil er es nicht erwarten konnte, war er ihr spontan gefolgt. Doch als er vor ihr stand, verzog sich ihr Mund. Nicht zu einem Lächeln, oh nein. »Du?«, hatte sie gefragt und geklungen, als hätte sie in einen Apfel gebissen, der unter der Schale faul war. Er wollte ihr erklären, warum er sie treffen wollte, sie treffen musste . Doch sie lachte nur und warf den Kopf in den Nacken, dass ihre roten Haare flogen: »Hast du mal in den Spiegel geguckt?«, fragte sie. Und hatte noch hinzugefügt: »Klarer Fall von Selbstüberschätzung, was?!« Und dann ihr Lachen: hoch und spöttisch. Da schlug er ihr ins Gesicht. Eigentlich wollte er das nicht, aber die Verachtung in ihrer Stimme ließ seine Beherrschung zu einem weiß glühenden Ball der Wut schmelzen. Sie schlug mit aller Kraft zurück, womit er nicht gerechnet hatte. Dann schrie sie ihn an.
    Sie sollte aufhören. Niemand durfte sie hören. Also hatte er sie gepackt und ihr den Mund zugehalten. So lange, bis sie still war. Ihr Körper sank in seinen Armen zusammen und ihr dunkelrotes Haar fiel weich wie Federn über seine Hände. Als er merkte, was e r getan hatte, geriet er in Panik. Doch dann wusste er, was zu tun war. Er war der Wolf. Und Wölfe waren schlauer als Menschen. Er würde ihnen nicht in die Falle gehen.

    * * *

    Ich weiß nicht mehr, wie ich reagiert habe, als Vios Vater mir sagte, dass Vios Tod kein Unfall oder Selbstmord war, sondern Mord. Habe ich geschrien? War ich stumm vor Entsetzen? Bin ich in Ohnmacht gefallen? Diese Minuten sind in meiner Erinnerung ausgelöscht. Blackout.
    Das Nächste, woran ich mich erinnere: Ich stand an der Terrassentüre und starrte in unseren herbstlichen Garten. Meine Mutter hatte ich weggeschickt. Ich konnte nicht einmal weinen. Denn für mich war Vio nicht tot. Erst vorgestern hatte sie auf der anderen Seite des Türglases gestanden, lachend, gestikulierend, sprühend vor Vio-Energie. So jemand starb doch nicht – nicht jetzt, nicht so. Es konnte nicht sein, dass Vio auf einmal nicht mehr da war. Ich hatte noch den Klang ihrer Stimme im Ohr, ich spürte sie noch so nah, als stünde sie neben mir. Und dieser Gedanke verankerte sich tief in mir: Vio war nicht tot, es war alles nur ein böser Traum.
    Wie ferngesteuert begann ich, sinnlos in meinem Zimmer herumzuräumen. Rückte Bücher ordentlich im Regal zurecht, wischte mit einem Taschentuch Staub von meinem Schreibtisch und dem Nachtkästchen. Meine Mutter sah

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