Hände vors Gesicht. Obwohl ich wusste, ich würde keine Antwort bekommen, hätte ich die Frage am liebsten laut herausgeschrien. Um meine Eltern nicht aufzuwecken, flüsterte ich sie jedoch nur in die Dunkelheit jenseits des Lampenlichts: »Was hab ich dir getan, Vio, dass du mich so hasst?«
Am nächsten Tag, mit Nessie auf dem Weg zur Schule, setzte ich mechanisch einen Fuß vor den anderen. Bis Nessies durchdringende Stimme erklang. »Elina May, hörst du mir überhaupt zu? Oder bin ich für dich nur wie so’n kleiner Begleit-Wauwau, den man überhaupt nicht beachten muss?«
Ich schreckte aus meinen Gedanken und sah, dass sie stehen geblieben war und mich aufgebracht musterte.
»Sorry, ich war gerade irgendwie … mit dem Kopf ganz woanders«, stotterte ich schuldbewusst.
Sie schnaubte nur genervt, also entschied ich mich, Tacheles zu reden. »Was würdest du machen, wenn du jemanden im Internet kennengelernt hättest und der sich mit dir treffen will?«, fragte ich vorsichtig – und fügte hastig hinzu: »Also ich meine natürlich nur … theoretisch!«
Von ihr kam keine Antwort, aber als ich vorsichtig zur Seite blickte, sah ich ihr breites Grinsen.
»Was?«, rief ich genervt. »Ich hab doch gesagt, reine Theorie!?«
Nessie schüttelte lachend den Kopf, dann aber beugte sie sich zu mir und raunte vertraulich: »Was glaubst du, wie Alex und ich uns kennengelernt haben, häh?«
Mir blieb vor Verblüffung der Mund offen stehen. »Etwa über … Schüvizett?«, stotterte ich.
»Was dachtest du denn? Über eine gemeinsame Vorliebe fürs Briefmarkensammeln? Oder beim Vereinstreffen der Taubenzüchter?«, erwiderte sie vergnügt. Und fügte schulterzuckend hinzu:
»Hey, das ist heutzutage doch das Normalste von der Welt! Oder soll ich einen Typen, der mir gefällt, etwa auf dem Schulhof ansprechen, wo jeder zugucken kann? Ihm ein Briefchen in die Schultasche schmuggeln? Das sind doch Steinzeitmethoden. Außerdem: Andere Gymies haben auch hübsche Schüler – da ist die Auswahl groß …!«
Wir hatten den Schulhof erreicht, und wie der Zufall es wollte, knatterte gerade eine allzu gut bekannte Vespa heran: Till. Er würdigte uns keines Blickes, sondern gab Gas und verschwand um die Ecke zu den Fahrrad- und Mofaparkplätzen.
Nessie sah mich an und zuckte dann lässig die Schultern: »Naja, das Risiko für einen Fehlgriff ist natürlich immer dabei«, sagte sie bedeutungsvoll und verzog das Gesicht, als hätte sie in eine Zitrone gebissen.
Ich nickte zögerlich. Gerne hätte ich die Sache genauso locker gesehen, aber ich war wohl nicht der Typ fürs Onlinedating. Sonst hätte ich nicht Till vergrault und mich beim Vorschlag von »Blauer Reiter« so mimosenhaft angestellt …
»Also, was ist nun wirklich Sache, spuck’s aus?!«, forderte Nessie, die wohl meinem Gesicht ansah, dass mir was auf dem Herzen lag.
Ich brachte sie möglichst knapp auf Stand. Zwar zog sie bei dem Nickname »Blauer Reiter« ihre sorgfältig gezupften Augenbrauen hoch, und als ich zugab, dass wir uns meistens Gedichte schickten, wanderte die linke Braue sogar noch ein Stück höher, aber sie spürte wohl, wie viel mir die Sache bedeutete.
Nachdem wir ein paar Sekunden schweigend nebeneinander hergetrottet waren, und sie nur nachdenklich die Stirn gerunzelt hatte, blieb sie plötzlich stehen. »Ich hab’s. Du triffst dich mit ihm – und schickst mir vorher eine SMS, wo. Wenn er auftaucht, sagst du gleich ganz beiläufig, dass jemand über euer Treffen Bescheid weiß – dann kommt er gar nicht erst auf blöde Ideen. Und ich bin in der Nähe.«
Ich blickte Nessie perplex an: »Genial!«
Sie grinste schief und flachste: »Ich muss dir was gestehen: Ich bin gar nicht echt blond – deswegen kann ich nicht nur sprechen, sondern sogar denken!«
Wir blickten uns an – und prusteten beide los. Bei mir war es die Erleichterung, die mich übermütig werden ließ. Ich beschloss, so schnell wie möglich einen Versuch zu starten, »Blauer Reiter« zu versöhnen.
In der Pause schlich ich mich in den Computerraum und sah zu meiner Erleichterung, dass niemand da war. Verstohlen, als würde ich einen Tresor knacken, statt einfach nur online zu gehen, loggte ich mich in meinen schülerVZ-Account ein. Ungeduldig trommelte ich mit den Fingern auf den grauen Resopaltisch, bis sich endlich meine Site aufgebaut hatte.
Von:
[email protected] An:
[email protected] Betreff: Treffen
Hi Blauer Reiter,
sorry wegen