Aufmerksamkeit. Nach Zuwendung. Anfangs waren sie alle so. Erst wenn sie ihn sahen, änderte sich der Ausdruck ihrer Augen.
Bei der Erinnerung an das verächtliche Gesicht des letzten Mädchens knurrte er wütend und zog dabei die Oberlippe hoch, dass er aussah wie ein tollwütiger Hund. Doch als er an die neue Beute dachte, lächelte er. Das Spiel begann, ihm Spaß zu machen. Er würde sie weiter am ausgestreckten Arm verhungern lassen, bis sie einlenkte. Bald schon hätte er sie so weit, dass sie nach seiner Pfeife tanzte. Und selbst wenn nicht: Er würde sie sich holen. Mit List – oder mit Gewalt.
* * *
10. Kapitel
Von:
[email protected] An:
[email protected] Betreff: mal wieder …
liebe vio,
ich hab’s mal wieder geschafft alles kaputtzumachen. dabei hatte ich gehofft, mit »blauer reiter« wäre es anders. es schien, als würden wir uns wortlos verstehen. doch dann hat er ein treffen vorgeschlagen – und ich hab’s versaut. weil ich ein feigling bin, ein angsthase.
er wollte mit mir spazieren gehen, ungestört sein. aber ich hab darauf bestanden, dass wir uns in einem café treffen. jetzt denkt er bestimmt, ich bin so ’ne oberflächliche zicke. eine rampensau, die nur deswegen ein date hat, damit sie vor ihren freundinnen angeben und eindruck schinden kann. deswegen schreibt er mir jetzt nicht mehr.
das tut mehr weh, als ich dachte. weil ich mich an seine nachrichten gewöhnt habe. weil ich auf seine gedichte warte wie ein kind auf weihnachten. als wäre ich süchtig. aber kann man nach mails von jemandem süchtig sein, den man nicht mal kennt? kann man sich in jemand verlieben, den man nie getroffen hat? von dem man weder den richtigen namen weiß, noch wie er eigentlich aussieht? ich weiß es nicht. alles, was ich weiß, ist, dass es mir mies geht und ich mich fühle wie ein ausgehöhlter kürbis. wieder habe ich jemanden verloren, der mir nahe war – und wieder ist es meine schuld.
deine lila
Als ich durch die Straßen lief, war alles in ein diffuses Licht getaucht. Die Sonne wollte an diesem Tag offenbar gar nicht erst aufgehen. Doch das war mir egal, ich wollte nur eins: »Blauer Reiter« finden. Ich konnte mich nicht damit abfinden, ihn vielleicht niemals zu treffen und nie mit ihm sprechen zu können. Also hatte ich mich auf die Suche nach ihm gemacht.
Und obwohl die Häuser immer weniger und dafür die Bäume zahlreicher wurden, lief ich weiter. Bis mir auffiel: Ich dürfte doch überhaupt nicht alleine unterwegs sein! Wo war Nessie, die mich sonst immer begleitete? In diesem Augenblick sah ich aber eine Gestalt auf einem Hügel stehen und Nessie war vergessen. Bestimmt stand dort »Blauer Reiter« und wartete auf mich! Freudig lief ich ihm entgegen. Als ich näherkam, sah ich jedoch, dass die Silhouette lange Haare hatte. Noch drei Schritte und ich erkannte: Es war Vio. Meine Erleichterung war grenzenlos: Sie war wieder da und alles würde gut werden. Doch als sie mit merkwürdig steifen Schritten wie eine Marionette an Fäden auf mich zukam, sah ich, dass mir unter ihren roten Haaren ein Totenschädel entgegengrinste. Statt in Vios Augen blickte ich in zwei leere Höhlen. Entsetzt schrie ich auf und wollte wegrennen. Da packte sie mich mit ihrer Knochenhand an der Schulter. Ihre Zähne knirschten, als sie versuchte, etwas zu sagen, und der bleiche Schädel bewegte sich von links nach rechts. Verzweifelt versuchte ich mich loszureißen, als mir etwas in die Nase drang: Die Mischung aus Schweiß, muffigen Gewürzen und fauligem Holz. Der Geruch des Maskenmanns.
Gefühlte fünf Minuten blieb ich in Todesangst stocksteif unter meiner Bettdecke liegen – unfähig, auch nur einen Muskel zu rühren, so fest hatte der Albtraum mich in den Krallen. Schließlich gelang es mir mich aufzusetzen und das Licht anzuknipsen: Mein Pyjama war durchgeschwitzt und meine Zähne klapperten wie die des Totenschädels inmeinem Traum. Warum quälte Vio mich so? Konnte sie mich nicht in Frieden lassen, wieso erschien sie mir in solch grauenhaften Szenarien und versetzte mich in Angst und Schrecken? Wollte sie sich an mir rächen? War sie sogar im Jenseits eifersüchtig, weil ich nach ihrem Tod neue Freunde – so wie »Blauer Reiter« – fand?
Dabei fehlte sie mir jeden Tag. Unsere gemeinsamen Momente waren in meinem Gedächtnis säuberlich aufgereiht wie Einmachgläser mit besonders schönen Früchten auf einem Regalbrett. Offenbar empfand die tote Vio jedoch anders. Verzweifelt schlug ich die