Schleich di!: ...oder Wie ich lernte, die Bayern zu lieben
den Esstisch im Wohnzimmer, der von Francesca und Elisa gedeckt wurde. Stefano und der zweite Zwilling schliefen noch. Oder so. Als Matteo und Diane vom Bäcker wiederkamen, hatten sie nicht nur Semmeln, Kuchen und Brot mitgebracht, sondern auch den Steiner Toni und Letizia, die im Wohnmobil übernachtet hatten. Die deftigen Bemerkungen der Brunner-Brüder lächelte der Steiner Toni einfach weg, während bei den Italienern, die Letizia gleich in ihre Mitte nahmen, ein detailreiches Tuscheln einsetzte. Sodom und Gomorrha, so hatte ich übers Oktoberfest gedacht. Das war’s auch geblieben, irgendwie. Ich dachte mittlerweile jedoch auch etwas anders darüber.
Mehr Leben geht nicht.
Ich erinnerte mich an die Magnumflasche Champagner, die der Steiner Toni mitgebracht hatte. Es würde keinen besseren Moment als diesen geben, sie zu trinken. Gemessen an dem freudigen Stöhnen, das die Runde hervorbrachte, als ich die Flasche auf den Tisch stellte, schienen die anderen meiner Meinung zu sein. Schnell waren die Gläser gefüllt. Wir stießen an. Neben mir steckten die Zwillinge ihre Köpfe zusammen, und Diane sagte zu ihrer Schwester:
»These Bavarians are hot shit, aren’t they?«
Und das, obwohl nur drei echte am Tisch saßen.
Münchens Oberbürgermeister Christian Ude hat einmal gesagt, dass Münchens Bevölkerung ja sehr darunter leide, dass zwischen dem Wiesnende und dem Anfang der nächsten fünfzig Wochen überbrückt werden müssen. Ich jedoch, als zugegebenermaßen sehr geringer Teil der Münchner Bevölkerung, war froh, dass das Oktoberfest endlich vorüber war. Ich brauchte eine Pause, auch wenn wir am letzten Wochenende die Wiesn noch einmal von einer anderen Seite kennengelernt hatten, abseits vom Trubel in den Zelten. Wir waren mit Oskar von Fahrgeschäft zu Fahrgeschäft gebummelt, mit der Wilden Maus gefahren, hatten uns nicht in die Olympia-Achterbahn mit ihren fünf Loopings getraut, uns über die Nieten an der Losbude geärgert, über starke Männer, die beim Hau-den-Lukas versagten, gelästert, mit Schokolade überzogene Erdbeeren gegessen und einander Lebkuchenherzen gekauft. Oskar hatte eines bekommen auf dem »Lausbub« stand. Ich hätte gern ein »Mein Held«-Herz gehabt, Francesca aber hatte sich für den »Zauberbär« entschieden. Doch in diesem Fall war Rache wirklich süß gewesen, und Francesca hatten den Nachhauseweg mit einem Herz antreten müssen, auf dem geschrieben stand: »Unsere Chefin ist spitze!«
Zwei Wochen später hatte unser Alltag wieder seinen gewohnten Rhythmus aus Freizeitstress und Gemütlichkeit gefunden. Und obwohl noch zwei Monate fehlten, war das Jahr gefühlt längst zu Ende. Die Weihnachtsfeiertage würden wir in Italien verbringen, der Urlaub war längst gebucht.
Es war ein Dienstag, an dem ich in Gedanken versunken von der Arbeit nach Hause kam. Jemand rief meinen Namen. Ich schaute mich um und sah auf der gegenüberliegenden Straßenseite Frau Pschierer stehen. Sie winkte und schob sich zwischen zwei parkenden Autos hindurch, um zu mir zu kommen. Ich hob den Arm, um ihr ebenfalls zu winken. Ich weiß nicht, warum Frau Pschierer das Auto nicht kommen sah. Ich wollte noch rufen, aber es war bereits zu spät. Es gab einen Knall, und Frau Pschierer flog über die Motorhaube, drehte sich einmal in der Luft und schlug mit dem Kopf auf dem Asphalt auf. Bremsen quietschten. Einen Augenblick lang herrschte Totenstille. Dann ging alles ganz schnell. Ich rannte zu Frau Pschierer. Es hatte sich bereits eine kleine Menschentraube um sie gebildet. Drei Leute riefen gleichzeitig einen Krankenwagen. Jemand rief nach einem Arzt. Ein Kind weinte. Frau Pschierer war noch bei Bewusstsein. Doch jeder, der sie ansah, konnte sehen, dass es ihr nicht gut ging. Jemand hatte sich zu ihr gehockt und redete beruhigend auf sie ein. Als sie mich sah, schien sie erleichtert. Ich wusste nicht, was ich ihr sagen sollte.
Drei Minuten später war der Notarztwagen da. Die Sanitäter waren schnell, ruhig und konzentriert. Sie wussten, was sie zu tun hatten. Ich versuchte, nicht im Weg zu sein. Obwohl ich genau sah, was sich um mich herum abspielte, kam es mir vor wie ein Traum. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Eine laute Stimme riss mich in die Wirklichkeit zurück.
»Sind Sie ein Angehöriger? Wollen Sie mit ins Krankenhaus fahren?«, fragte mich einer der Sanitäter.
»Ich … weiß nicht?« Ich schaute zu Frau Pschierer, die nun auf einer Trage lag. Sie nickte mir zu. »Wenn das
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